Der Bundeskanzler hat, darin waren sich später alle einig, in seiner Festrede zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant den Philosophen heldenhaft verteidigt gegen die Vereinnahmung durch Wladimir Putin, der Kant seinen liebsten Philosophen nennt und zum Geburtstag prächtige Feiern in Kaliningrad ausrichten lässt.

Die Frage, ob man nicht, dringender noch als Kant, die Ukraine vor der Vereinnahmung durch Putin retten muss, zumal Putin in der Ukraine weitaus größere Schäden anrichtet als in der allgemeinen Kant-Rezeption: Die hat dem Kanzler aber niemand gestellt an diesem Abend, nicht öffentlich jedenfalls.

Stattdessen lobte der Philosoph Volker Gerhardt den Kanzler dafür, dass er Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ einer Prüfung durch die praktische Politik ausgesetzt, dass er also eine Kritik Kants formuliert habe, was außer Gerhardt aber niemand wahrgenommen hatte. Auch dass Scholz, quasi umgekehrt, sich von der Lektüre Kants zur Kritik des eigenen Denkens hätte provozieren lassen, war nicht zu spüren.

Die Rede war eine Kritik Putins mit den Argumenten Kants, wogegen wenig einzuwenden wäre – wenn diese Kritik nicht schon 2008, als Putin sich ein Stück aus Georgien herausriss, in derselben Schärfe hätte formuliert werden müssen. Spätestens aber 2014, nach der Annexion der Krim. Heute kann die Waffe der Kritik die Anwendung der Waffen aus europäischen und amerikanischen Fabriken nur noch begleiten und begründen.

Es war eine sehr ernste und politische Rede, die Scholz am Montagabend hielt – und trotzdem dachte man manchmal den unseriösen Gedanken, dass Kant dieser Rede zuhöre und dabei lächle. Die Schrift „Zum ewigen Frieden“ entwirft ja einerseits eine philosophisch begründete Theorie der internationalen Politik. Und andererseits ist sie auch eine Anmaßung, eine fast jugendliche Frechheit – was nicht nur davon kommt, dass Kant sich den Titel geborgt hat, bei einem Wirtshaus, das anscheinend neben einem Friedhof lag. Sondern auch davon, dass ein Gelehrter im abgelegenen Königsberg, sechs Jahre nach der Französischen Revolution, all den Selbstherrschern, den Kaisern, Königen, Groß- und Kurfürsten barsch mitteilt, dass sie ihren Staaten gefälligst republikanische Verfassungen geben müssten, weil man vorher über den Frieden gar nicht zu verhandeln brauche.

Wenn heute, 229 Jahre danach, ein mächtiger Kanzler einem noch mächtigeren Präsidenten anhand der so genannten Präliminarpunkte Kants bescheinigt, dass der sich auf Kant nicht berufen darf, ist das eine schöne Pointe. Auf den ersten Punkt, dass man nämlich keinen Frieden schließen solle mit einer Partei, die sich auf den nächsten Krieg schon vorbereite, ging Scholz ausführlich ein: Da richtete er die Waffe der Kritik auch gegen die Friedensforscher in der eigenen Fraktion.

QOSHE - Kants Kanzler - Claudius Seidl
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Kants Kanzler

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23.04.2024

Der Bundeskanzler hat, darin waren sich später alle einig, in seiner Festrede zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant den Philosophen heldenhaft verteidigt gegen die Vereinnahmung durch Wladimir Putin, der Kant seinen liebsten Philosophen nennt und zum Geburtstag prächtige Feiern in Kaliningrad ausrichten lässt.

Die Frage, ob man nicht, dringender noch als Kant, die Ukraine vor der Vereinnahmung durch Putin retten muss, zumal Putin in der Ukraine weitaus größere Schäden anrichtet als in der allgemeinen Kant-Rezeption: Die hat dem Kanzler aber niemand gestellt an diesem Abend, nicht öffentlich jedenfalls.

Stattdessen lobte der Philosoph Volker Gerhardt den Kanzler........

© Frankfurter Allgemeine


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