Wenn die Steine und die Straßen sprechen könnten, würden uns die Städte vielleicht ihre wahren Namen verraten. Es sind aber die Menschen, welche die Städte beim Namen nennen, und die Menschen in der Hauptstadt der Ukraine, so berichten es die Korrespondenten und der deutsche Botschafter, wünschen sich, dass wir, statt den alten deutschen Namen „Kiew“ zu verwenden, in Zukunft ukrainisch „Kyiv“ sagen und schreiben: weil der deutsche Name sich aus dem Russischen herleite und damit die russische Herrschaft, welche die Ukrainer doch überwunden hätten, auf dem Feld der Sprache perpetuiere.

Man könnte, barsch und besserwisserisch, entgegnen, dass die deutschen Wörterbücher voll sind von Vokabeln, die sich aus anderen Sprachen herleiten. Und dass die Frage, wie ihre Hauptstadt auf Deutsch heiße, die Ukrainer ungefähr so viel angehe wie uns Deutsche der Umstand, dass Italiener von Stoccarda sprechen und unser Land in fast allen slawischen Sprachen das „Land der Stummen“ heißt.

Wer so argumentiert, übersieht aber, dass die Leugnung der Existenz eines ukrainischen Volks, einer ukrainischen Kultur und Geschichte eine der Begründungen für den verbrecherischen Überfall Russlands war. Weshalb die Ukrainer nicht nur gute Gründe für die Ablehnung alles Russischen haben. Sondern auch dafür, die ganze Ukraine zu ukrainisieren. Deshalb heißt Selenskyj nicht mehr Wladimir und spricht Ukrainisch, das nicht seine Muttersprache ist.

Man kann natürlich fragen, ob der Widerstand gegen die russische Armee, die ungeheure Tapferkeit und Moral der Ukrainer nicht Beweis genug sind für die Existenz des ukrainischen Volks. Man kann fragen, ob Namen nur Etiketten sind, die man schnell austauschen kann, oder ob in ihnen nicht auch Erinnerung geborgen sein könnte. Kiew hieß die Stadt auch auf Jiddisch, so wie Lemberg nicht nur ein deutsches, sondern auch ein jiddisches Wort ist.

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Wer meint, Lwiw sei der einzig wahre Name der Stadt, wer nur noch von der Westukraine spricht, weil er Namen wie Galizien und Bukowina für veraltet hält, der arbeitet im Grunde daran, aus der Erinnerung zu verdrängen, was die Nationalsozialisten schon im Zweiten Weltkrieg ausgelöscht haben: das polnisch-jüdisch-österreichisch-ukrainisch-rumänische Durcheinander, das doch so lange eine der stärksten Wurzeln jener europäischen Kultur war, der die Ukraine sich zugehörig fühlt.

Der Gebrauch deutscher Namen ersetzt noch kein Geschichtsbewusstsein. Aber mit der Frage, warum es für ein und denselben Ort so viele verschiedene Namen gibt, könnte es anfangen. Was die Ukraine vermutlich dringender als neue Wörter braucht, sind neue Waffen.

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Soll Kiew künftig Kyiv heißen?

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08.01.2024

Wenn die Steine und die Straßen sprechen könnten, würden uns die Städte vielleicht ihre wahren Namen verraten. Es sind aber die Menschen, welche die Städte beim Namen nennen, und die Menschen in der Hauptstadt der Ukraine, so berichten es die Korrespondenten und der deutsche Botschafter, wünschen sich, dass wir, statt den alten deutschen Namen „Kiew“ zu verwenden, in Zukunft ukrainisch „Kyiv“ sagen und schreiben: weil der deutsche Name sich aus dem Russischen herleite und damit die russische Herrschaft, welche die Ukrainer doch überwunden hätten, auf dem Feld der Sprache perpetuiere.

Man könnte, barsch und besserwisserisch, entgegnen, dass die deutschen Wörterbücher voll sind von Vokabeln, die sich........

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