Die Zeiten sind lange vorbei, dass die Repräsentanten der katholischen Kirche sich in dem Glauben wähnen konnten, die Welt warte nur auf ihre Worte, um zu wissen, was gut sei und richtig und was böse und falsch - was weniger an der Welt als an der Kirche liegt. Denn aus vielem, was das sogenannte Lehramt im Lauf der vergangenen Jahrhunderte von sich gab, sprach nicht unbedingt eine besondere Sachkenntnis, geschweige denn eine Sicht der Wirklichkeit, die von der Lebenswelt in all ihrer oft abgründigen Vielschichtigkeit informiert und vom Evangelium in all seiner befreienden Dynamik inspiriert war.

Stattdessen verschanzte sich die Kirche gerade auf dem Feld der Biopolitik hinter einer Idee des Naturrechts, die sich jeder Kritik an der Methode entzog, von Sein auf das Sollen zu schließen. Noch weniger vom Vertrauen auf die Kraft des besseren Argumentes zeugte auch das mitunter fast lächerlich wirkende Unterfangen, dasjenige erst in die Seinsordnung hineinzulesen, was man im Ergebnis aus ihr herauslesen wollte.

Vor diesem Hintergrund ist es schon eine kleine Revolution, wenn Papst Franziskus wenige Tage vor Weihnachten mit der Einsicht ernst macht, dass Menschen auch dann an einer Segenshandlung gelegen sein kann, wenn sie andere und anders lieben als von der Kirche gutgeheißen. Vor kaum knapp drei Jahren hatten der Papst und seine Glaubenshüter die Erfüllung einer entsprechenden Bitte noch für undenkbar gehalten. Nun aber ist von einer „echten Weiterentwicklung“ der Lehre der Kirche die Rede, ganz so, als sei nichts selbstverständlicher, als dass das, was gestern noch kategorisch falsch war, heute unter bestimmten Bedingungen richtig sein kann.

Im Ergebnis mögen viele den Sinneswandel begrüßen. Weniger gesagt ist, ob das reichlich hemdsärmelige Agieren des Papstes dazu angetan ist, Vertrauen in die theologische Rationalität und die intellektuelle Redlichkeit der Akteure in Rom zu erzeugen. Ganz und gar nicht sicher ist, dass er die Mehrheit der Bischöfe weltweit hinter sich wissen kann. Auch wenn er mittlerweile mehr als die Hälfte der Mitglieder des Kardinalskollegeiums ernannt hat, so geben in den meisten Bischofskonferenzen Kleriker den Ton an, die von Papst Johannes Paul II. und seinem Nachfolger Benedikt XVI. nicht zuletzt nach der Maßgabe ausgewählt wurden, die biopolitische Linie nicht zu verlassen, die die Kirche im 19. Jahrhundert eingeschlagen und vor allem hinsichtlich des Verbots „künstlicher“ Empfängnisverhütung seither immer wieder bekräftigt hat.

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QOSHE - Eine kleine Revolution - Daniel Deckers
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Eine kleine Revolution

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18.12.2023

Die Zeiten sind lange vorbei, dass die Repräsentanten der katholischen Kirche sich in dem Glauben wähnen konnten, die Welt warte nur auf ihre Worte, um zu wissen, was gut sei und richtig und was böse und falsch - was weniger an der Welt als an der Kirche liegt. Denn aus vielem, was das sogenannte Lehramt im Lauf der vergangenen Jahrhunderte von sich gab, sprach nicht unbedingt eine besondere Sachkenntnis, geschweige denn eine Sicht der Wirklichkeit, die von der Lebenswelt in all ihrer oft abgründigen Vielschichtigkeit informiert und vom Evangelium in all seiner befreienden Dynamik inspiriert war.

Stattdessen verschanzte sich die Kirche gerade auf dem Feld der Biopolitik hinter einer Idee des Naturrechts, die sich jeder Kritik an der........

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