Der Begriff „Zeitenwende“ ist zu einer beliebten Bezeichnung für politische Veränderungen aller Art geworden. Betrachtet man dann deren reales Ausmaß, erweist sich die Wortwahl oft als übertrieben. Mit der Rentenpolitik ist es nun aber anders: Die Ampelregierung präsentiert ein Gesetzespaket unter dem aufreizend harmlosen Etikett „Rentenniveau sichern“ und läutet damit eine echte Zeitenwende ein. Tatsächlich ist es der Ausstieg aus einer Rentenpolitik, die sich darum bemüht, im demographischen Wandel einen Lastenausgleich zwischen den Generationen zu organisieren.

Genau zu diesem Zweck fließt seit fast 30 Jahren ein Demographie- oder Nachhaltigkeitsfaktor in die Berechnung der jährlichen Rentener­höhung ein: Wenn es mehr Rentner und weniger Arbeitnehmer gibt, dann müssten die Jüngeren als Zahler selbst ohne jede Rentenerhöhung schon steigende Beitragslasten tragen; und noch viel höhere Lasten löst dann ein Rentenanstieg im Gleichschritt mit den Löhnen aus. Besagter Faktor bewirkt, dass die Renten unter diesen Umständen etwas weniger stark steigen als die Löhne. Ebendieser Mechanismus wird nun dauerhaft ausgeschaltet.

Das ist der eigentliche Kern des Gesetzes, das Sozialminister Heil (SPD) und Finanzminister Lindner (FDP) gerade auf den Weg bringen – auch wenn Heil es mit irreführenden Äußerungen verschleiert. Er tut zum Beispiel so, als drohe ohne sein Gesetz eine Kürzung von Renten. Das ist objektiv falsch, weil jetzt schon gesetzlich verboten.

Und er tut so, als würden ohne sein Gesetz die Renten von den Löhnen abgekoppelt. Glaubt die SPD wirklich, mit irreführender Angstmache Wähler zu gewinnen oder gar den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ zu stärken?

Der Nachhaltigkeitsfaktor, um dessen Stilllegung es nun geht, wirkt bisher sogar umgekehrt: Steigt die Zahl der beitragspflichtigen Arbeitnehmer stärker als die Zahl der Rentner, löst er einen Zuschlag zu den jährlichen Rentenerhöhungen aus. Tatsächlich hat er im vergangenen Jahrzehnt, als am Ar­beitsmarkt noch echter Aufschwung herrschte, mehrfach Zuschläge zu den jährlichen Rentenerhöhungen ausgelöst – die Renten stiegen dann stärker als die Löhne. Damals haben weder Heil noch andere SPD-Genossen über eine angeblich unfaire Entkoppelung von Renten und Löhnen geklagt.

Das zeigt, wem sich diese Politik am stärksten verpflichtet sieht; beitragspflichtige Arbeitnehmer sind es nicht. Dabei geht der Nachhaltigkeitsfaktor in der heutigen Form auf die rot-grüne Bundesregierung zurück. Und es war von Beginn an klar, dass er mit dem Renteneintritt der geburtenstarken Jahrgänge ein Absinken der viel strapazierten Kenngröße Rentenniveau auslöst. Denn mit jedem Promille, um das der Rentenanstieg hinter dem Lohn­anstieg zurückbleibt, geschieht mathematisch zwingend genau das.

Und genau das sollte ja der Solidarbeitrag der Babyboomer zum Lastenausgleich sein. Ihre Nach­kom­men tragen keine Schuld daran, dass sie pro Geburtsjahrgang nur noch halb so viele Menschen und damit potentielle Beitragszahler sind. Nun aber ist es so: Kurz bevor der Lastenausgleich seine eigent­liche Wirkung entfaltet, wird er stillgelegt. Da er bisher andersherum wirkte, hat er faktisch die Belastung der Zahlergeneration sogar erhöht.

Natürlich ist es nicht verboten, einen Lastenausgleich wieder infrage zu stellen. Verstörend an der heutigen Rentendebatte ist aber, dass sie diese Tragweite nicht erfasst. An den Rahmenbedingungen hat sich jedenfalls nichts geändert, was eine derartige Zeitenwende rechtfertigt. Weder wurden ganz neue Produktiv­kräfte der deutschen Wirtschaft entdeckt, noch fällt der demographische Wandel plötzlich aus.

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Die Hoffnung auf einige Zehntausend zusätzliche Fachkräfte ist auch keine Grundlage, um zusätzliche Rentenerhöhungen für Millionen Rentner zu bezahlen. Im Übrigen werden es ausländische Fachkräfte kaum als Lockruf verstehen, wenn man ihnen einen beschleunigten Anstieg des Rentenbeitrags, also weniger Netto vom Brutto, ankündigt, um hiesigen Rentnern mehr zu zahlen. Dass das geplante „Generationenkapital“ vielleicht nach 2035 das Tempo des Beitragsanstiegs etwas dämpft, hilft da auch nicht.

Ebenso wenig überzeugen Erklärungen, dass die Stilllegung des Nachhaltigkeitsfaktors eine Operation gegen Altersarmut sei. Denn von den zweistelligen Milliardenbeträgen für die prozentual stärkeren Rentenerhöhungen, die sie auslöst, fließt der größte Teil an Versicherte mit überdurchschnittlichen Renten. Auch das bestätigt, dass dieser Regierung die Kraft fehlt, Prioritäten zu setzen. Trotz aller anderen Etatnöte plant sie eine Rentenreform auf Pump, die weiteres Vertrauen in die Stabilität des Generationenvertrags kostet.

QOSHE - Rentenpolitik rückwärts - Dietrich Creutzburg, Berlin
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Rentenpolitik rückwärts

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06.03.2024

Der Begriff „Zeitenwende“ ist zu einer beliebten Bezeichnung für politische Veränderungen aller Art geworden. Betrachtet man dann deren reales Ausmaß, erweist sich die Wortwahl oft als übertrieben. Mit der Rentenpolitik ist es nun aber anders: Die Ampelregierung präsentiert ein Gesetzespaket unter dem aufreizend harmlosen Etikett „Rentenniveau sichern“ und läutet damit eine echte Zeitenwende ein. Tatsächlich ist es der Ausstieg aus einer Rentenpolitik, die sich darum bemüht, im demographischen Wandel einen Lastenausgleich zwischen den Generationen zu organisieren.

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Das ist der eigentliche Kern des Gesetzes, das Sozialminister Heil (SPD) und........

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