Wir leben in Zeiten galoppierender Irrationalität. Wer gemütlich in seiner Filterblase sitzt, hat es mit dem scharfen Besteck nicht so. Sondern fühlt lieber. Sich ausgeschlossen, mit gemeint, missverstanden. Folglich hat auch das Bewerten Konjunktur, vor allem da, wo es ganz ohne Maßstäbe auskommt – jenseits der Presse, am liebsten in sozialen Netzen.

Das Staatstheater Wiesbaden schreibt eine Pressemitteilung und geht zurück zu den Wurzeln. Zu Kant, dessen zeittypisches Weltbild mit heutigen Standards oft kollidiert. Und dann hat der Mann auch noch philosophische Untersuchungen angestellt, mit denen sich Leute ungern herumschlagen. Für angemessene denkerische Vorbereitung hat das Theater die für den 12. März anberaumte „Foyer-Veranstaltung“ unter dem Titel „Latte – Korrespondenz mit einem Redakteur“ nicht etwa abgesagt, sondern auf den 25. April verschoben. Die ursprüngliche Besetzung mit dem am 22. Januar ausgeschiedenen Intendanten Uwe Eric Laufenberg habe sich „aus bekannten Gründen zerschlagen“, teilt das Theater mit.

Und weil so viele Leute sich das gewünscht hätten, ist der Untertitel geändert worden. In „Zur Vernunft der reinen (Theater-)Kritik“. Was für eine sportive Aufgabe, diese gymnastische Bewältigung gleichzeitigen Zurückruderns, Vorwärtskurshaltens und Verbeugens vor der ursprünglich angekündigten Form des Abends. Und dann noch der Denksport, samt Umdeutung der kantschen Begriffe! Wird in dieser neuerlichen Ankündigung der „Gegenkritik“ die italianisierende Anspielung auf die Zielscheibe seiner Attacke, einen Redakteur des „Wiesbadener Kuriers“, doch umgedeutet: Jetzt nämlich geht es um die „Mess-Latte“, als die sich „die Kritik“ verstehe. Und das Theater, das da spricht, möchte die „reine Theaterkritik“ , was auch immer das sein soll, danach befragen, wer denn die Kritik kritisiere?

Mehr zum Thema

1/

Staatstheater Wiesbaden : Singend sind sich die Russen einig

Internationale Maifestspiele : John Malkovich spielt am Staatstheater Wiesbaden

Nach Abgang Laufenbergs : Jack Kurfess soll Staatstheater Wiesbaden aus der Krise managen

Hat sich deshalb der einstige Peymann- und Burgtheater-Dramaturg, der 82 Jahre alte Hermann Beil, erbötig gemacht, den Abend statt Laufenberg zu übernehmen? Und will er bei der „inhaltlichen Ausrichtung“ bleiben? Denn die Erben dieser „Foyer-Veranstaltung“ wollen „eine Antwort auf die Frage liefern, ob die Pressefreiheit dem auf sie befürchteten Angriff standhalten wird – oder eben nicht“. So einen Satz muss man, ganz ohne Kant, erst einmal schreiben.

Das Gute an einer Kritik im journalistischen Sinne ist, dass sie gelesen wird, bestenfalls von Leuten, die sich sachkundig mit ihrem Gegenstand auseinandersetzen. Diese Presse-Freiheit wird sich niemand durch ein Wiesbadener Foyergespräch nehmen lassen. Der Nachsatz „oder eben nicht“ sagt aber sehr viel über dessen Veranstalter.

QOSHE - Jetzt muss Kant herhalten - Eva-Maria Magel
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Jetzt muss Kant herhalten

11 0
21.02.2024

Wir leben in Zeiten galoppierender Irrationalität. Wer gemütlich in seiner Filterblase sitzt, hat es mit dem scharfen Besteck nicht so. Sondern fühlt lieber. Sich ausgeschlossen, mit gemeint, missverstanden. Folglich hat auch das Bewerten Konjunktur, vor allem da, wo es ganz ohne Maßstäbe auskommt – jenseits der Presse, am liebsten in sozialen Netzen.

Das Staatstheater Wiesbaden schreibt eine Pressemitteilung und geht zurück zu den Wurzeln. Zu Kant, dessen zeittypisches Weltbild mit heutigen Standards oft kollidiert. Und dann hat der Mann auch noch philosophische Untersuchungen angestellt, mit denen sich Leute ungern herumschlagen. Für angemessene denkerische Vorbereitung hat das Theater die für den 12. März........

© Frankfurter Allgemeine


Get it on Google Play