Es ist seine bisher größte Niederlage. Zum ersten Mal seit dem Aufstieg von Recep Tayyip Erdoğan vor zwanzig Jahren ist seine Partei bei Wahlen nicht mehr stärkste Kraft. Die Kandidaten, die der türkische Präsident hat aufstellen lassen, waren so blass, dass er nicht einmal versuchte, ihnen die Verantwortung für das schwache Abschneiden bei der Kommunalwahl zuzuschieben.

Nach so vielen Jahren unter seiner Führung ist die Partei personell ausgezehrt. Potentielle Nachfolger und Nebenbuhler hat Erdoğan frühzeitig aussortiert. So geht er selbst nun beschädigt aus einer Abstimmung hervor, in der er eigentlich nicht zur Wahl stand.

Die Opposition sieht in ihrem Freudentaumel schon den Anfang vom Ende der Ära Erdoğan gekommen. Bis zur nächsten Präsidentenwahl in vier Jahren kann aber noch viel passieren. Erdoğan ist schon öfter abgeschrieben worden und bisher immer zurückgekommen.

Das Alter macht ihm allerdings sichtbar zu schaffen. Die Niederlage lässt ihn wie einen alternden Autokraten erscheinen. Doch selbst wenn er in vier Jahren nicht noch einmal antritt, kann er einen Nachfolger in die Spur setzen, der seinen Wünschen treu ergeben ist.

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An den Machtverhältnissen im Land ändert sich vorerst nicht viel. In der zentralistischen Türkei haben die Bürgermeister wenig Gestaltungsspielraum. Was sich ändert, ist die Stimmung. Und das ist dann doch viel. Zum ersten Mal seit Langem erscheint eine andere Türkei möglich. Ein Land, das nicht mehr scheinbar unaufhaltsam in Richtung Autokratie schlittert. In dem sich religiöse und säkulare Türken nicht unvermeidlich als Gegner verstehen.

Nach der Präsidentenwahl im vergangenen Jahr war das halbe Land in eine kollektive Depression verfallen. Als einziger Ausweg schien vielen auszuwandern. Eine weitere Niederlage der Opposition hätte einer Entpolitisierung Vorschub geleistet und die Widerstandskräfte gegen den fortschreitend autoritären Kurs des Landes geschwächt. Zumindest dieser Abwärtstrend ist vorerst gestoppt.

QOSHE - Eine andere Türkei ist möglich - Friederike Böge
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Eine andere Türkei ist möglich

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01.04.2024

Es ist seine bisher größte Niederlage. Zum ersten Mal seit dem Aufstieg von Recep Tayyip Erdoğan vor zwanzig Jahren ist seine Partei bei Wahlen nicht mehr stärkste Kraft. Die Kandidaten, die der türkische Präsident hat aufstellen lassen, waren so blass, dass er nicht einmal versuchte, ihnen die Verantwortung für das schwache Abschneiden bei der Kommunalwahl zuzuschieben.

Nach so vielen Jahren unter seiner Führung ist die Partei personell ausgezehrt. Potentielle Nachfolger und Nebenbuhler hat Erdoğan frühzeitig aussortiert. So geht er selbst nun........

© Frankfurter Allgemeine


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