Politiker stehen vor der Herausforderung, zu alten Themen Neues sagen zu müssen. Sie halten alle Jahre wieder Weihnachtsansprachen, geißeln Kriege und lobpreisen Frieden und Freiheit. Was sie sagen, ist zwar wahr, aber auch vorhersehbar, und so hören viele Bürger längst weg. Erst recht, seit Radikale auf allen Kanälen senden: Sie geben vor, zu reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Mal wütend, mal spottend, nie langweilig. Die Methode: Ansprache statt Durchsage.

Besonders schwer tun deutsche Politiker sich damit, etwas Eindrückliches zum Thema Antisemitismus zu sagen. Das ist nicht neu. Vor fünf Jahren beschrieb die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel eine „Floskelkultur“, die schon lange das Hauptproblem der Politik im Kampf gegen Antisemitismus sei.

Man könnte einwenden, Floskeln seien üblich in der Politik. Doch sie sind ungleich auf die Themen verteilt. Je unsicherer Politiker sich fühlen, desto eher verpanzern sie sich hinter sicheren Sätzen. Zum Tempolimit fällt vielen etwas Eigenes ein. Die Frage, was „Nie wieder“ denn heute bedeuten solle, verlangt mehr, unter anderem Feingefühl.

Dass daran viele scheitern, zeigen die vergangenen Tage und Wochen. So hielt Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) am 9. November eine Rede im Bundestag, die den Eindruck erweckte, eine Künstliche Intelligenz habe sie aus allen bisher gehaltenen Reden zu diesem Anlass extrahiert. „,Nie wieder!‘, meine Damen und Herren, ist jetzt“, sagte Faeser und: „Auch als gesamte Gesellschaft sind wir jetzt gefordert, meine Damen und Herren.“

In einigen Sätzen beschrieb die Ministerin eine Wirklichkeit, die sie anstrebt, so, als wäre diese schon erreicht: „Wir stehen zusammen, und, meine Damen und Herren, wir sind lauter als diejenigen, die Hass verbreiten.“ Doch wenige Minuten zuvor hatte sie jene Lautstärke überhaupt erst angemahnt: „Als Gesellschaft müssen wir viel lauter werden.“ Am Rednerpult sprach Faeser laut, fast schrie sie. Doch auch das wirkte abgelesen.

Anders war es mit einem Video, das Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) kürzlich veröffentlichte. Auch er hielt eine – abgelesene – Rede. Sie drang durch, Millionen sahen sie binnen Stunden. Was Habeck sagte, war weder bahnbrechend neu noch über die Maßen zugespitzt. Andere Politiker, darunter der Bundeskanzler, hatten sich schon zuvor zum selben Thema geäußert. Sie fanden durchaus deutliche Worte.

Aber Habeck sprach so, dass man ihm glaubte, die Sätze selbst gedacht zu haben. Diese Fähigkeit, deren wichtigste Voraussetzung die Bereitschaft ist, lieber offen statt sicher zu sein, ist keine schöne Kunst für Rhetorikwettbewerbe. Sie sorgt dafür, dass Bürger Politikern zuhören, statt wegzuklicken.

Das ist dringend nötig. Denn dass es nie wieder einen Holocaust geben darf, ist Konsens unter beinahe allen Deutschen. Und dass die Sicherheit Israels Teil der deutschen Staatsräson ist, dürfte auch in entlegenen Winkeln des Landes vernommen worden sein. Bloß sind viele Menschen ratlos, was daraus folgt.

Ähnlich beschrieb es kürzlich die Mitherausgeberin der Mitte-Studie, Beate Küpper. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Verbreitung rechtsextremer und antidemokratischer Einstellungen. Küpper sagte anlässlich der Vorstellung des Lagebilds Antisemitismus, die Deutschen hätten bei dem Thema eher Gefühls- und Reflexionslücken, als dass ihnen Wissen fehle. Auf diese Lücken sollte jeder Bürger sich prüfen. Aber auch jeder Politiker.

Sie müssen die Bürger wirklich ansprechen, statt nur zu beschwören. Wer sich in seinem Wahlkreis umhört, wird erfahren, dass viele Menschen nicht einmal wissen, ob sie einen Juden kennen. Sie sind darauf in der Regel nicht stolz, vielen ist es peinlich. Gerade das verstärkt die Unsicherheit. Wer zu ihnen in Floskeln spricht, erreicht nur Frust.

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Dabei wären Mitgefühl und Einsicht in die Gefährdung von Juden in Deutschland die Voraussetzung dafür, Verantwortung nicht nur für eine Pflicht zu halten, sondern sie zu empfinden und sich aus eigenem Antrieb am Schutz der Juden zu beteiligen. Das ist wichtig, um die Antisemiten in die Schranken zu weisen, auf den Straßen, in den Schulen, am Stammtisch, am Abendbrottisch. Sie dürfen deutsche Politiker nicht für die Vorsänger einer stummen Gemeinde halten.

Ebenso entscheidend ist es, den Feinden der Juden nicht jede Parole durchgehen zu lassen. Faeser hat klar entschieden, als sie vor einigen Tagen im Zuge des Hamas-Verbots auch den Slogan „From the River to the Sea, Palestine will be free“ verbot. Er ist als Code für die Auslöschung des Staates Israel bekannt. Dies wiederum werden manche Bürger nicht auf den ersten Blick verstehen. Und man mag es auch anders sehen. Die Politiker müssen es erklären.

QOSHE - Die schädliche Floskelkultur - Friederike Haupt
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Die schädliche Floskelkultur

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25.11.2023

Politiker stehen vor der Herausforderung, zu alten Themen Neues sagen zu müssen. Sie halten alle Jahre wieder Weihnachtsansprachen, geißeln Kriege und lobpreisen Frieden und Freiheit. Was sie sagen, ist zwar wahr, aber auch vorhersehbar, und so hören viele Bürger längst weg. Erst recht, seit Radikale auf allen Kanälen senden: Sie geben vor, zu reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Mal wütend, mal spottend, nie langweilig. Die Methode: Ansprache statt Durchsage.

Besonders schwer tun deutsche Politiker sich damit, etwas Eindrückliches zum Thema Antisemitismus zu sagen. Das ist nicht neu. Vor fünf Jahren beschrieb die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel eine „Floskelkultur“, die schon lange das Hauptproblem der Politik im Kampf gegen Antisemitismus sei.

Man könnte einwenden, Floskeln seien üblich in der Politik. Doch sie sind ungleich auf die Themen verteilt. Je unsicherer Politiker sich fühlen, desto eher verpanzern sie sich hinter sicheren Sätzen. Zum Tempolimit fällt vielen etwas Eigenes ein. Die Frage, was „Nie wieder“ denn heute bedeuten solle, verlangt mehr, unter anderem Feingefühl.

Dass daran viele scheitern, zeigen die vergangenen Tage und Wochen. So hielt Bundesinnenministerin Nancy Faeser........

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