Oft heißt es, Deutschland sei gespalten. In Ost und West, Arme und Reiche, Dörfler und Städter, Frauen und Männer, Linke und Rechte – welche Kluft gerade als entscheidend gilt, hängt von der aktuellen Debattenlage ab. Viele Bürger hören da längst weg, und das zu Recht. Die Behauptung einer Spaltung spaltet selbst, und außerdem nervt sie, so wie alles Dahergesagte.

In den vergangenen Wochen gingen Hunderttausende Deutsche auf die Straße, um für die Demokratie zu demonstrieren. Das hat den Blick ausnahmsweise von Spaltung auf Zusammenhalt gelenkt – auf die Mitte der Gesellschaft. Doch wie ist diese Mitte beschaffen? Der Soziologe Steffen Mau hat das in einem schönen Bild beschrieben: Man könne sich die Gesellschaft als Kamelrücken vorstellen, mit zwei Höckern, die ein tiefes Tal trennt. Oder als Dromedarrücken, also mit nur einem Höcker, auf dem die Mentalitäten und sozialen Positionen wie in einer Gauß’schen Glockenkurve verteilt sind. Nach Mau ist die zweite Variante besser geeignet, um unsere Gesellschaft zu beschreiben.

Demnach ist die Kluft gar keine. Die Mitte reicht weit, es gehören ganz verschiedene Menschen dazu, die sich durchaus auch voneinander entfernt verorten. Zwar sind die Ränder in den vergangenen Jahren breiter geworden. Doch es sind Ränder geblieben. Die Erkenntnis mag tröstlich sein, immerhin gibt es also eine Mitte statt eines Grabens, aber das Wissen darum reicht nicht aus. Die Mitte muss sich fragen, was sie zusammenhält.

Sind es Festlegungen auf Feiertage, Regelwerke, Bekenntnisse, die richtigen Bücher im Regal? Auch – aber entscheidend ist ein anderer Punkt. Gesellschaftlicher Zusammenhalt entsteht mehr durch Bewegung als durch Festlegung, so wie man einen einmal angelegten Pfad immer wieder gehen muss, damit er nicht zuwächst. Und bei dieser Bewegung sind viele Deutsche in den vergangenen Jahren träge geworden.

Das liegt auch daran, dass sie früher stärker angetrieben wurden. Traditionen hatten mehr Bedeutung, die Kirche entfaltete größeren Einfluss, und politische Parteien zogen viele neue Mitglieder an. Es war leichter, mit den Nachbarn ins Gespräch zu kommen, als die noch ihr halbes Leben lang im selben Haus wohnten, am Samstagabend dieselbe Fernsehshow sahen wie alle anderen und sich, so wie man selbst, über vieles nicht aufregten, weil es woanders geschah und niemand davon erfuhr.

Heute zeigen die sozialen Netzwerke allen alles, jedes falsche Wort bekommt seinen Hashtag, ­jedes unpassende Lachen seinen Shitstorm, jede Nachricht ihre Fake News. Die Algorithmen ordnen Wortmeldungen nach Aufregerpotenzial; wer zu einer Sache keine Meinung hat oder für eine differenzierte Sicht wirbt, wird von den Maximalmeinern übertönt. Das hat Folgen über das Netz hinaus. Die Ränder werden lauter, die Mitte schweigt oder streitet darüber, wer am Lärm der Ränder schuld ist.

So kommt das Trennende stärker in den Blick als das Verbindende; Nachsicht gerät unter Generalverdacht, sie könnte ja Naivität oder, noch schlimmer, ein Indiz für Mittäterschaft sein. Das Problem an dieser Art des Streits ist nicht die Konfliktbereitschaft der Beteiligten, sondern ihre Unversöhnlichkeit. So wird die Frage, ob einer gendert, zur alles entscheidenden stilisiert; als ließen sich von der Antwort Schlüsse auf den Charakter oder die Eignung für Verantwortung ziehen. Während die einen die Luft aus SUV-Reifen lassen, um deren Besitzer zu strafen, versenken die anderen Poller, die Fahrradstraßen markieren, im Fluss – beides ereignete sich in den vergangenen Wochen in Berlin. Die Kleinkriege summieren sich zu einem großen Hauen und Stechen, bei dem alle verlieren.

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Das stört viele Menschen. Sie müssen allerdings auch Schlüsse daraus ziehen. Die Kundgebungen gegen Rechtsextremismus sind darum bedeutsam. Dort finden Menschen zusammen, die auf dem Dromedarrücken weit voneinander entfernt sitzen, Jugendliche von „Fridays for Future“ ebenso wie Volkswagen-Chef Oliver Blume und der frühere CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet. Brandenburger Dörfler basteln genauso Plakate wie Berliner FDP-Leute. Die einen sind für ein „menschliches Havelland“, die anderen „Liberale gegen Demokratiefeinde“.

Zu recht unterstützen nun auch die deutschen Bischöfe die „lebhafte und starke Protestbewegung“. Menschen gehen aufeinander zu, um zusammen stärker zu sein; dass sie dabei auch Fehler machen, wie jüngst in Münster, wo die Veranstalter einer Kundgebung dem CDU-Oberbürgermeister kein Rederecht einräumen wollten, ist Ausdruck jenes Lagerdenkens, das gerade überwunden werden soll. Mit gutem Grund: Die Kundgebungen sind Machtdemonstrationen der Mitte; darum fürchtet die AfD sie.

QOSHE - Die starke Mitte - Friederike Haupt
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Die starke Mitte

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25.02.2024

Oft heißt es, Deutschland sei gespalten. In Ost und West, Arme und Reiche, Dörfler und Städter, Frauen und Männer, Linke und Rechte – welche Kluft gerade als entscheidend gilt, hängt von der aktuellen Debattenlage ab. Viele Bürger hören da längst weg, und das zu Recht. Die Behauptung einer Spaltung spaltet selbst, und außerdem nervt sie, so wie alles Dahergesagte.

In den vergangenen Wochen gingen Hunderttausende Deutsche auf die Straße, um für die Demokratie zu demonstrieren. Das hat den Blick ausnahmsweise von Spaltung auf Zusammenhalt gelenkt – auf die Mitte der Gesellschaft. Doch wie ist diese Mitte beschaffen? Der Soziologe Steffen Mau hat das in einem schönen Bild beschrieben: Man könne sich die Gesellschaft als Kamelrücken vorstellen, mit zwei Höckern, die ein tiefes Tal trennt. Oder als Dromedarrücken, also mit nur einem Höcker, auf dem die Mentalitäten und sozialen Positionen wie in einer Gauß’schen Glockenkurve verteilt sind. Nach Mau ist die zweite Variante besser geeignet, um unsere Gesellschaft zu beschreiben.

Demnach ist die Kluft gar keine. Die Mitte reicht weit, es gehören ganz verschiedene Menschen dazu, die sich durchaus auch voneinander entfernt verorten. Zwar sind die Ränder in den........

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