Am 9. September 1982 sandte Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (FDP) eine wirtschaftspolitische Ausarbeitung an Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD), die als „Lambsdorff-Papier“ in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eingegangen ist. Darin skizzierte der Wirtschaftsminister ein auf die Verbesserung der Angebotsbedingungen zielendes Programm, das neben Vorschlägen für eine Stabilisierung des Bundeshaushalts und eine Eindämmung der Kosten des Sozialstaats auch für eine Deregulierung und die Schaffung von Anreizen für private Investitionen plädierte.

Lambsdorffs Papier, das zu Recht als marktwirtschaftliches Manifest verstanden wurde, gilt als Scheidungsurkunde der sozialliberalen Koalition, weil eine Mehrheit in der SPD an der starken Rolle des Staates in der Wirtschaftspolitik festhalten wollte und die Ideen der FDP brüsk ablehnte. Die Koalition aus SPD und FDP zerbrach, worauf die FDP mit der Union die lange Kanzlerschaft Helmut Kohls begründete.

Heute ist für die FDP die Zeit gekommen, ein Papier in der Tradition Otto Graf Lambsdorffs zu verfassen und an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zu senden – auch wenn die politische Großwetterlage nicht zu einem Koalitionsbruch einzuladen scheint. Anders als im Jahre 1982 wartet kein alternativer Partner, mit dem die Liberalen eine Mehrheit im Bundestag bilden könnten.

Schon sind warnende Stimmen zu vernehmen, die von unklaren Machtverhältnissen im Bundestag weiteren Rückenwind für Randparteien erwarten. Doch muss die Frage gestattet sein, ob der politische Rand von einer Fortsetzung der Ampel nicht stärker profitieren würde. Ein Ende mit Schrecken ist häufig besser als ein Schrecken ohne Ende.

Deutschland muss – nicht nur – in wirtschafts- und finanzpolitischer Hinsicht dringend besser regiert werden. Die Ampelparteien bekennen sich zwar zur Pflege des Standorts. Aber ihre Politik erinnert an eine Ansammlung rasch konzipierter, unzusammenhängender Aushilfen, die zum Teil dazu dienen, frühere Fehlentscheidungen zu korrigieren. Eine Politik, die erkennbar für eine Verbesserung der Rahmenbedingungen sorgte, diente der Wirtschaft mehr als eine kurzatmige Kombination aus Regulierungen und Subventionen. Aktive Industriepolitik, durch zusätzliche Staatsschulden finanziert, verlangt nach einem Staat, der sich mit dieser Lenkungsaufgabe nicht überfordert.

Beschwörend vorgetragene Pleonasmen wie „Zukunftsinvestitionen“ (früher war bekannt, dass Investitionen per Definition in die Zukunft gerichtete Projekte beschreiben) können nicht verdecken, dass spätestens seit dem Heizungsgesetz düstere Wolken nicht nur über der Regierung aufziehen. Das Wachstumspotenzial der deutschen Wirtschaft schrumpft erheblich. Die von Experten benannten Ursachen – das rückläufige Arbeitsangebot wegen der Demographie, ein wegen Standortschwächen niedriges Wachstum der Produktivität sowie hohe Energiepreise – erfordern eine stetige Wirtschaftspolitik, die Unternehmen die Möglichkeit bietet, ihre Kräfte zu entfalten.

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Neben einer machtvollen angebotspolitischen Agenda bedarf es im Anschluss an das Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit fordernde Urteil des Bundesverfassungsgerichts eines Kassensturzes. Alle Ausgaben gehören auf den Prüfstand; dies gilt für die konsumtiven Staatsausgaben ebenso wie für die Subventionen und die Investitionen. Ein Blick in die jährlich vom Kieler Institut für Weltwirtschaft veröffentlichte Liste der Subventionen erscheint lohnend; überprüft werden müssten auch in der „Wir-können uns-alles-leisten“-Phase getroffene Entscheidungen wie die abenteuerlich hohe Subventionierung der Chip-Fabrik in Magdeburg. Wer steigende Staatsverschuldung als alternativlos deklariert und in jeder kritischen Überprüfung von Ausgaben undifferenziert schädliche Austerität und einen Kahlschlag des Sozialstaats sieht, treibt bisher gemäßigte Wähler direkt in die Arme des politischen Randes.

Die FDP sollte ihre Koalitionspartner fragen, ob sie eine Wende zu einer solideren Wirtschafts- und Finanzpolitik mitgehen wollen – sofern die Liberalen selbst daran überhaupt interessiert sind. Das aktuelle Debakel der Finanzpolitik findet unter einem FDP-Finanzminister statt, der in der aktuellen Lage nichts Besseres zu tun hatte, als zunächst einmal dem Ende des Vorzugssatzes der Mehrwertsteuer für die Gastronomie nachzutrauern. Angebotspolitik und Klientelismus stehen jedoch im Widerspruch zueinander. Ein neues Lambsdorff-Papier brauchen nicht nur SPD und Grüne, sondern auch die FDP.

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Besser ein Ende mit Schrecken

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21.11.2023

Am 9. September 1982 sandte Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (FDP) eine wirtschaftspolitische Ausarbeitung an Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD), die als „Lambsdorff-Papier“ in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eingegangen ist. Darin skizzierte der Wirtschaftsminister ein auf die Verbesserung der Angebotsbedingungen zielendes Programm, das neben Vorschlägen für eine Stabilisierung des Bundeshaushalts und eine Eindämmung der Kosten des Sozialstaats auch für eine Deregulierung und die Schaffung von Anreizen für private Investitionen plädierte.

Lambsdorffs Papier, das zu Recht als marktwirtschaftliches Manifest verstanden wurde, gilt als Scheidungsurkunde der sozialliberalen Koalition, weil eine Mehrheit in der SPD an der starken Rolle des Staates in der Wirtschaftspolitik festhalten wollte und die Ideen der FDP brüsk ablehnte. Die Koalition aus SPD und FDP zerbrach, worauf die FDP mit der Union die lange Kanzlerschaft Helmut Kohls begründete.

Heute ist für die FDP die Zeit gekommen, ein Papier in der Tradition Otto Graf Lambsdorffs zu verfassen und an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zu senden – auch wenn die politische........

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