Die Bundesregierung hat finanzpolitisch Vabanque gespielt – und sie hat verloren. Um für das zu Ende gehende Jahr überhaupt noch einen Haushalt zustande zu bringen, greift sie ein weiteres Mal zur Ausnahmeklausel des Artikels 115 des Grundgesetzes, der für nicht von der Regierung zu verantwortende Notlagen eine Aussetzung der Schuldenbremse gestattet.

Die aus verfassungsrechtlicher Sicht möglicherweise sehr fragile Brücke, über die der Haushalt 2023 in sichere Gefilde transportiert werden soll, hatte vor wenigen Tagen der Lindner-Berater Lars Feld in der F.A.Z. beschrieben. Überraschend kam die Ankündigung des Bundesfinanzministers am Donnerstagnachmittag daher nicht.

Gleichwohl handelt es sich um nichts weniger als die vierte Erklärung einer finanzpolitischen Notlage in Folge, der, wenn man auf Stimmen aus der SPD und den Grünen hörte, eigentlich eine fünfte für das kommende Jahr folgen müsste, sofern es gelänge, irgendeine verfassungsrechtlich halbwegs tragfähige Recht­fertigung zu finden. Da dies nach Auskunft von Fachleuten schwierig werden dürfte, richtet sich der Furor bei SPD, Grünen sowie ihren Adepten in Wissenschaft und Medien gegen die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse.

Nähme man alle Äußerungen aus diesem Lager ernst, drohte die Schuldenbremse zu einer regelrechten Gefahr für die Stabilität der Demokratie zu werden. Das ist, deutlich gesprochen, Unfug, der auf eine peinlich selbsterhöhende Weise eine Regierungskrise zu einer Demokratiekrise zu stilisieren versucht, um sich an der Macht zu halten.

Sollte eine Gefahr existieren, wäre es eher das Festhalten ge­mäßigter Parteien nicht nur in Deutschland an einem Politikverständnis, das zur Entfremdung einer immer größeren Zahl von Wählern führt. Die Idee, man könne diesen Prozess aufhalten, sofern sich nur mehr Projekte auf Pump finanzieren ließen, wäre mit dem Wort naiv nicht ausreichend beschrieben. Sie ist leider auch verhängnisvoll.

Vor fast auf den Tag genau 100 Jahren erschien in der „Frankfurter Zeitung“ eine Analyse über den Verfall politischer Sitten. Die Zeiten waren damals erheblich schwieriger angesichts einer Hyperinflation und einer politischen Radikalisierung von Teilen der Bevölkerung, die unter anderem zum Hitler-Putsch am 9. November 1923 geführt hatte. In diesem Artikel wurde beklagt, die politische Rechte (gemeint war vor allem die damalige Deutschnationale Volkspartei, die sich später als parlamentarischer Steigbügelhalter für die Nationalsozialisten erwies) betreibe bewusst eine Politik der Spaltung, während die an der Regierung befindlichen gemäßigten Kräfte sich zu Recht bemühten, mit ihrer Politik einen möglichst großen Teil der Bevölkerung zu erreichen.

Wie die Sache ausging, steht in den Geschichtsbüchern. Die gemäßigten Kräfte vermochten die Weimarer Repu­blik nicht dauerhaft zu stabilisieren, da sich immer weniger Wähler durch ihre Politik vertreten fühlten, worauf am Ende Extremisten, die mehr als nur spalteten, die Macht erlangten.

Historische Vergleiche sollten nicht überstrapaziert werden, aber in zahlreichen demokratischen Ländern ist seit geraumer Zeit ein Verlust des Vertrauens in die traditionellen Parteien unverkennbar. In Deutschland befinden sich die Beliebtheitswerte der Ampel tief im Untergeschoss, doch die größte Oppositionskraft profitiert in Umfragen von dieser eklatanten Schwäche nicht in einem Maße, wie man es erwarten sollte.

Fänden heute Bundestagswahlen statt, wäre eine Regierungsbildung ohne die Union in der führenden Rolle wohl nicht vorstellbar. Aber eigentlich müsste die Union angesichts der Malaisen der Regierungskoalition in Umfragen bei mindestens 35 Prozent liegen. Diese Werte erreicht sie jedoch jedenfalls bislang nicht.

QOSHE - Der Notstand darf nicht zur Regel werden - Gerald Braunberger
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Der Notstand darf nicht zur Regel werden

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25.11.2023

Die Bundesregierung hat finanzpolitisch Vabanque gespielt – und sie hat verloren. Um für das zu Ende gehende Jahr überhaupt noch einen Haushalt zustande zu bringen, greift sie ein weiteres Mal zur Ausnahmeklausel des Artikels 115 des Grundgesetzes, der für nicht von der Regierung zu verantwortende Notlagen eine Aussetzung der Schuldenbremse gestattet.

Die aus verfassungsrechtlicher Sicht möglicherweise sehr fragile Brücke, über die der Haushalt 2023 in sichere Gefilde transportiert werden soll, hatte vor wenigen Tagen der Lindner-Berater Lars Feld in der F.A.Z. beschrieben. Überraschend kam die Ankündigung des Bundesfinanzministers am Donnerstagnachmittag daher nicht.

Gleichwohl handelt es sich um nichts weniger als die vierte Erklärung einer finanzpolitischen Notlage in Folge, der, wenn man auf Stimmen aus der SPD und den Grünen hörte, eigentlich eine fünfte für das kommende Jahr folgen........

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