Seit dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober ist in Deutschland ein Ausmaß antisemitischer Straftaten und judenfeindlicher Hetze zu sehen, das lange unvorstellbar schien. Von 2249 registrierten Straftaten seit dem 7. Oktober spricht das Bundeskriminalamt.

Hinzu kommen viele nicht gemeldete Angriffe auf Juden, die Sachbeschädigungen, Hakenkreuze, Judensterne an Häusern und Briefkästen oft gar nicht mehr anzeigen. Sie scheuen den Gang zur Polizei und ahnen schon, dass ein Ermittlungsverfahren ohnehin in den meisten Fällen eingestellt wird, weil die Täter nicht aufzufinden sind.

Dass Juden in Deutschland im Jahr 2024 unter Decknamen ihre Apps zur Essens- und Taxibestellung benutzen, dass sie sich nicht mehr zu jüdischen Veranstaltungen oder in die Synagoge trauen, ist mehr als erschreckend.

Jüdisches Leben schien doch gerade in Frankfurt und Berlin wieder dazuzugehören und sichtbar zu werden. Jetzt allerdings hat ein bedrohlicher Teufelskreis eingesetzt: Juden müssen sich angesichts der aktuellen Angriffe und Hetztiraden immer häufiger für Sicherheit statt Sichtbarkeit entscheiden.

Das führt ausgerechnet in einer Zeit, da jüdisches Leben sichtbar, erklärbar und wahrnehmbar werden müsste, dazu, dass es immer weniger sichtbar wird. Es ist eine neue, erschreckende Form der erzwungenen Selbst-Ghettoisierung und Unsichtbarkeit. Die Öffentlichkeit nimmt sie einfach hin, als traurige Normalität oder weil sie selbst bis in die bürgerliche Mitte hinein in Teilen antisemitisch denkt.

Gegen muslimischen Antisemitismus vorzugehen gehört zu den schwierigsten Aufgaben. Antisemitismus in Klassen mit einer muslimischen Mehrheit unter den Schülern zu thematisieren endet nicht selten im Chaos. Das berichten Lehrer, die den Gazakrieg lieber nicht mehr erwähnen. Die Schulen sind mit dieser Auseinandersetzung nicht selten überfordert. Denn noch so informative Schulstunden kommen nicht gegen häusliche Indoktrination durch Eltern und Verwandte oder ganztägige Beschallung einschlägiger Fernsehsender an.

Es ist deshalb gut, dass sowohl der Zentralrat als auch Stiftungen zunehmend in den Social-Media-Kanälen mit aufklärender Gegenrede reagieren. Mit Videos und Tiktok-Beiträgen können Jugendliche dort erreicht werden, wo sie sich am liebsten bewegen.

Am besten wäre es noch immer, wenn sie jüdischen Menschen begegneten, doch genau das wird durch den neuerlichen Teufelskreis unwahrscheinlicher. Dabei gehört das Projekt „Meet a Jew“ zu den erfolgreichsten – etwa in Berlin.

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Jüdische Eltern haben vielerorts ihre Kinder von allgemeinen Schulen genommen und sie auf jüdische Institutionen geschickt, wo die Kinder gut bewacht hinter Mauern und Zäunen mit anderen jüdischen Kindern lernen. Nicht selten werden sie von den Eltern abgeholt, weil sie nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren sollen.

Jüdische Symbole werden nicht mehr offen getragen, es werden keine jüdischen Lieder gesungen, wenn andere zuhören können, und schon gar nicht wird He­bräisch gesprochen. Wie lange will die Öffentlichkeit hinnehmen, dass Juden sich wieder verstecken und in ständiger Angst leben müssen? Der Teufelskreis der Sicherheit statt Sichtbarkeit muss jetzt durchbrochen werden, weil es um die Zukunft des Zusammenlebens geht.

QOSHE - Der Teufelskreis der Selbst-Ghettoisierung - Heike Schmoll
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Der Teufelskreis der Selbst-Ghettoisierung

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27.01.2024

Seit dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober ist in Deutschland ein Ausmaß antisemitischer Straftaten und judenfeindlicher Hetze zu sehen, das lange unvorstellbar schien. Von 2249 registrierten Straftaten seit dem 7. Oktober spricht das Bundeskriminalamt.

Hinzu kommen viele nicht gemeldete Angriffe auf Juden, die Sachbeschädigungen, Hakenkreuze, Judensterne an Häusern und Briefkästen oft gar nicht mehr anzeigen. Sie scheuen den Gang zur Polizei und ahnen schon, dass ein Ermittlungsverfahren ohnehin in den meisten Fällen eingestellt wird, weil die Täter nicht aufzufinden sind.

Dass Juden in Deutschland im Jahr 2024 unter Decknamen ihre Apps zur Essens- und Taxibestellung benutzen, dass sie sich nicht mehr zu jüdischen Veranstaltungen oder in die Synagoge trauen, ist mehr als erschreckend.

Jüdisches Leben schien doch gerade in Frankfurt und........

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