Vor Kurzem hat der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretsch­mann zum wiederholten Mal die Bedeutung von Rechtschreibkenntnissen angesichts der Schreibprogramme auf allen digitalen Geräten infrage gestellt. Den Lehrern hat der ehemalige Lehrer damit einen Bärendienst erwiesen. Denn es ist schon schwer genug, nach Jahren der bildungspolitischen Vernachlässigung überhaupt wieder korrekte Schreibung zu lehren, sie zu prüfen und Schüler von der Notwendigkeit zu überzeugen, sie zu erlernen.

Die Feststellung vieler Älterer, dass sich die Rechtschreibleistungen der Schüler und Schulabgänger in den vergangenen Jahren immer weiter verschlechtert haben, ist kein kulturpessimistisches Gerede, sondern trifft zu. Das lag auch an wechselnden Moden des Schreib- und Leseunterrichts in der Grundschule. Der Wettstreit um Ganzwortmethode oder einzelnes Buchstaben- und Laute-Lernen begann schon Ende der Sechzigerjahre. In den Siebzigerjahren wurde korrekte Schreibung schon weniger wichtig genommen.

Später beherrschten die Reichen-Methode (Schreiben nach Gehör) und die Betonung auf kreativem Schreiben vielerorts den Deutschunterricht. Doch was nutzt kreatives Schreiben in der Primarstufe, wenn auch noch so wohlmeinende Lehrer und Mitglieder der Sprachgemeinschaft die Texte nicht verstehen, weil die Laut-Buchstaben-Zuordnung nicht stimmt und jedes Wort zu einem Rätsel wird?

Die Bildungspolitiker haben viel dafür getan, die Bedeutung der Rechtschreibung zu relativieren. Durch die Rechtschreibreform als autoritäre Setzung und nicht als Nachvollzug sprachlicher Entwicklungen ist die Einheitlichkeit der Schreibung massiv geschwächt worden. Sichere Schreiber wurden verunsichert. Vor allem bei der Interpunktion hatte fortan jeder den Eindruck, er könne Kommata nach Gefühl setzen. Es gibt aber Regeln – bis heute.

Die Diktate verschwanden aus den Klassenzimmern, auch wenn sie am besten zeigen, ob Schüler gehörte Laute auch in Schrift übersetzen können. Als der sozialdemokratische Schulsenator in Hamburg sie in einer verzweifelten schulpolitischen Lage wieder einführte, hieß es, Diktat komme von Diktatur.

Es ist genau dieser Verdacht des Gängelns und der Kontrolle, der die Rechtschreibdebatten von Beginn an beherrscht hat. „Die Rechtschreibung ist eine förmliche geistige Folter für die Jugend ... das ist noch die alte deutsche autoritäre Erziehung in Reinkultur“, hieß es 1929 in einer Zeitschrift des Bildungsverbandes der deutschen Buchdrucker, die ganz den Geist der Reformpädagogik atmete. Erst 1901 war die erste einheitliche Rechtschreibung für die deutschsprachigen Länder bei einer orthographischen Konferenz in Berlin vereinbart worden.

Eine normierte Rechtschreibung des Deutschen hat sich nicht dadurch erledigt, dass die digitalen Helfer Schreibprogramme bereithalten und kaum noch handschriftlich kommuniziert wird. Sie ist auch nicht deshalb überflüssig, weil Kinder schon in jungen Jahren in Chats und auf Whatsapp Texte in Kurzsprache mit vielen Emojis schreiben.

Die gesamte Primarschulzeit ist ein Prozess des Erwerbs der Schriftsprache. Ohne normierte Regeln und eine solide Grammatik ist daran nicht zu denken. Das gilt erst recht angesichts der vielen eingewanderten Schüler, die noch nicht über ein sicheres sprachliches Fundament verfügen.

Nicht nur um ihretwillen müssen Lehrer sichere Grammatik-, Morphologie- und Rechtschreibkenntnisse haben. Daran hapert es zunehmend. Neue Handreichungen für einen schriftsprachlichen Anfangsunterricht holen nach, was Lehrer eigentlich nicht erst in ihrem Studium gelernt haben sollten. Gezielte Fortbildungen können helfen, bauen aber auf dem Fundament einer sicheren Sprachbeherrschung bei den Lehrern auf, die nicht in jedem Fall vorhanden ist. Dabei spiegelt sich die Klarheit des Denkens auch und gerade in einer Strukturiertheit der Sprache.

Teilhabe, das neudeutsche Bildungsziel, ist nur dann möglich, wenn Sprache zur Verständigung dient. Die Sprachgemeinschaft braucht die Normierung. Deshalb ist die Abschaffung der Fehlerquotienten keine gute Entwicklung, weil sie das einfache Berechnungsmodell eines Fehlers auf eine bestimmte Anzahl von Wörtern durch das Ausfüllen von Analysebogen und viel Bürokratie ersetzt.

In manchen Bundesländern ist es nicht einmal möglich, die Note wegen vieler grammatischer und orthographischer Fehler herabzusetzen. Welcher Schüler sollte dann Rechtschreibung ernst nehmen? Und welchen Eindruck vermitteln eigentlich die Muttersprachler den Ausländern, die sich mühsam um korrektes Deutsch bemühen? Es ist eben kein Zufall, dass das Interesse am Deutschlernen und auch am Germanistikstudium abnimmt, wenn Deutsch von der eigenen Sprachgemeinschaft so wenig Wertschätzung erfährt.

QOSHE - Sprache braucht Normen - Heike Schmoll
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Sprache braucht Normen

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18.04.2024

Vor Kurzem hat der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretsch­mann zum wiederholten Mal die Bedeutung von Rechtschreibkenntnissen angesichts der Schreibprogramme auf allen digitalen Geräten infrage gestellt. Den Lehrern hat der ehemalige Lehrer damit einen Bärendienst erwiesen. Denn es ist schon schwer genug, nach Jahren der bildungspolitischen Vernachlässigung überhaupt wieder korrekte Schreibung zu lehren, sie zu prüfen und Schüler von der Notwendigkeit zu überzeugen, sie zu erlernen.

Die Feststellung vieler Älterer, dass sich die Rechtschreibleistungen der Schüler und Schulabgänger in den vergangenen Jahren immer weiter verschlechtert haben, ist kein kulturpessimistisches Gerede, sondern trifft zu. Das lag auch an wechselnden Moden des Schreib- und Leseunterrichts in der Grundschule. Der Wettstreit um Ganzwortmethode oder einzelnes Buchstaben- und Laute-Lernen begann schon Ende der Sechzigerjahre. In den Siebzigerjahren wurde korrekte Schreibung schon weniger wichtig genommen.

Später beherrschten die Reichen-Methode (Schreiben nach Gehör) und die Betonung auf kreativem Schreiben vielerorts den Deutschunterricht. Doch was nutzt........

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