Erderwärmung, Krieg gegen die Ukraine, Terror in Israel, ein Amoklauf in Prag, bei dem auch Lenka Hlávková erschossen wurde, die zur Musik der tschechischen Renaissance, besonders der Hussiten, geforscht hatte – und dann strömen Tausende in München, Leipzig oder Berlin ins Konzert, um Ludwig van Beethovens neunte Symphonie zu hören und mit „Freude, schöner Götterfunken“ die Wirklichkeit aus ihrem Bewusstsein zu filtern?

Sie tun es mit Recht; sie tun es um des eigenen Überlebens willen, so wie Menschen seit mindestens 45.000 Jahren Musik gehört haben, was Ins­trumenten-Funde beweisen. Keine Nachrichtenlage der Welt hat sie jemals davon abgehalten. Vielmehr haben sie dank der Musik manchen Schrecken ausgehalten.

Der aus einer jüdischen Familie stammende Martin Doernberg erzählte oft, wie er mit seinem Vater im KZ Buchenwald immer wieder den Chor aus Johannes Brahms’ „Altrhapsodie“ nach Goethes Text anstimmte: „Ist auf deinem Psalter, Vater der Liebe, ein Ton seinem Ohre vernehmlich, so erquicke sein Herz!“ Und Clara Schumann, deren Mann Robert versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, und dann in einer Nervenheilanstalt starb, deren Söhne entweder dem Alkohol, dem Wahnsinn oder der Tuberkulose zum Opfer fielen, bekannte: „Wie empfinde ich den göttlichen Trost in der Kunst! Wie oft habe ich mich in dieser Zeit zu einem Bachbande geflüchtet, wenn die Wehmut über mich hereinbrach, und immer hat mich der alte Bach erquickt und förmlich gestärkt.“

Am heitersten und von allen Rechtfertigungsnöten frei war die Kunst Europas in Zeiten geringer Lebenserwartung und hoher Säuglingssterblichkeit, in Jahrhunderten nicht enden wollender Kriege, ohne Penicillin und Narkotika. Die zum Kunstgewerbe gewordene Verzweiflung, der routinierte Pessimismus des Regietheaters, der jedes Happy End auf den Opernbühnen zynisch verhöhnt, haben sich erst mit einer langen Friedensdividende, mit Kranken-, Renten-, Pflege- und Künstlersozialversicherung etabliert. Damit einher geht aber auch die intellektuelle Vernichtung von Zukunftsfähigkeit und von Trostpotential in der Kunst.

Dass jedoch Musik „die Seelen fröhlich macht“, wie Martin Luther schrieb, dass sie tröstet und stärkt, ist mittlerweile durch die Hirnforschung bestätigt worden. Musikwahrnehmung setzt, wie wir jetzt wissen, weit vor der Geburt in der 28. Schwangerschaftswoche ein. Während wir noch nicht sehen und sprechen können, beginnt bereits das Zusammenspiel des Hörens mit unserem Hormonstoffwechsel, mit Zuständen der Lust, Angst und Belohnung. Bei Säuglingen, die Wiegenlieder hören, hat man eine Abnahme des Stresshormons Cortisol nachgewiesen.

Laut der jüngsten Erhebung des Deutschen Musikinformationszen­trums gab es 2021 in Deutschland 14,3 Millionen Menschen, die aktiv Musik machen. Im Vergleich zur Vorgängerstudie von 2012 sei das ein Anstieg um zwei Prozent. Dass Musizieren die Lernfähigkeit steigere und soziale Kompetenzen kräftige, wird immer wieder angeführt, wo man den Musikunterricht gegen Desinteresse und Spardruck zu verteidigen sucht und dabei die Kunst von einem Zweck zu einem Mittel verzwergt.

Dabei steht die Musik selbst, mit der tiefen Aufmerksamkeit, die sie verlangt und die sich von der Hyperaktivität zerhackter Zeit in unserem Erwerbsleben unterscheidet, für die Utopie eines freien Menschen, der sich hörend aus der Hörigkeit löst – als Pause von der Fremdverzweckung. Der Trost, den sie schenkt, beruht auch auf einer vorausgehenden Lernarbeit: Zusammenhänge nachvollziehen zu können, die Sinn stiften, zuweilen im Trotz gegen eine sinnlose Welt.

Dass diese Sinnerlebnisse bei Musik wiederum stärker als bei anderen Künsten mit erheblichen hirnchemischen Reaktionen einhergehen, mit der Ausschüttung von Belohnungshormonen und Stimmungsstabilisatoren wie sonst nur noch bei der Sexualität und beim Essen, ist ebenfalls beobachtet worden. Doch diese mitunter heftigen körperlich-emotionalen Antworten auf die Musik, die fern jeder Moral erfolgen und die ukrainischen Menschen in den U-Bahn-Schächten ebenso aufbauen wie die russischen Soldaten beim Schlachten, sind zugleich die Folge kultureller Konditionierung und individueller Lernerfahrung.

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Um die Kraft des Trostes in der Musik zu erschließen, bedarf es genau jener kulturellen Praxis, für die unsere zahlreichen Silvester- und Neujahrskonzerte ein Beispiel sind. Beethoven selbst sprach angesichts des ersten Satzes seiner Neunten vom „verzweiflungsvollen Zustand“. Dieses Werk, das am 7. Mai 2024 zweihundert Jahre alt werden wird, erzählt auch davon, dass die finale „Freude“ eine existenzielle Anstrengung bedeutet. Pessimismus ist dagegen Zustimmung zum Vorfindlichen und immer billig zu haben.

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Freude, schöner Götterfunken

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30.12.2023

Erderwärmung, Krieg gegen die Ukraine, Terror in Israel, ein Amoklauf in Prag, bei dem auch Lenka Hlávková erschossen wurde, die zur Musik der tschechischen Renaissance, besonders der Hussiten, geforscht hatte – und dann strömen Tausende in München, Leipzig oder Berlin ins Konzert, um Ludwig van Beethovens neunte Symphonie zu hören und mit „Freude, schöner Götterfunken“ die Wirklichkeit aus ihrem Bewusstsein zu filtern?

Sie tun es mit Recht; sie tun es um des eigenen Überlebens willen, so wie Menschen seit mindestens 45.000 Jahren Musik gehört haben, was Ins­trumenten-Funde beweisen. Keine Nachrichtenlage der Welt hat sie jemals davon abgehalten. Vielmehr haben sie dank der Musik manchen Schrecken ausgehalten.

Der aus einer jüdischen Familie stammende Martin Doernberg erzählte oft, wie er mit seinem Vater im KZ Buchenwald immer wieder den Chor aus Johannes Brahms’ „Altrhapsodie“ nach Goethes Text anstimmte: „Ist auf deinem Psalter, Vater der Liebe, ein Ton seinem Ohre vernehmlich, so erquicke sein Herz!“ Und Clara Schumann, deren Mann Robert versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, und dann in einer Nervenheilanstalt starb, deren Söhne entweder dem Alkohol, dem Wahnsinn oder der........

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