In den Monaten nach dem Attentat auf ihn, als Wolfgang Schäuble im Krankenbett mit einem ­metallenen Apparat, den er „Foltergerät“ nannte, den Öffnungswinkel seines Kiefers vergrößerte, um wieder sprechen zu können, bat er seine Frau jeden Abend, bevor sie sein Zimmer verließ, ihm klassische Musik aufzulegen. Als er später gefragt wurde, ob er glaube, dass Musik heilen könne, antwortete er: „Sie hat eine tröstende Kraft. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Musik kann eine Heilung sicher positiv beeinflussen. Doch bislang habe ich nicht gehört, dass man Konzertbesuche bei der Krankenkasse abrechnen kann.“

Schäubles Liebe zur Musik war so ernst, dass sie keine Sentimentalität vertrug. Er war auch „für Berieselung nicht geschaffen“ und hörte Musik immer mit ungeteilter Aufmerksamkeit. Musik zu hören bedeutete für ihn: still werden, sich fallen lassen, sich versenken. In seiner Jugend hatte er selbst Geige gespielt, freilich „mehr gekratzt als gespielt“, wie er zugab. Doch irgendwann habe er sich damit abfinden müssen, dass ihm dazu die Zeit fehlen würde. Keinen anderen Bundespolitiker aber sah man in Berlin so oft im Konzert wie Wolfgang Schäuble. Saisoneröffnungen und Galavergnügen waren seine Sache nicht. Mitten in der Woche, im musikalischen Alltag, wurde wieder und wieder in der Philharmonie sein Rollstuhl diskret in den Saal geschoben; dann hörte er sich die Philharmoniker an oder das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, mit dessen langjährigem Chefdirigenten Marek Janowski ihn beinahe eine Freundschaft verband. Im ersten Rang links in der Staatsoper Unter den Linden hatte er seinen Rollstuhl-Stammplatz, auf dem er kaum eine Premiere versäumte.

Musik, so schrieb Schäuble zum 450-jährigen Bestehen der Berliner Staatskapelle, könne „nicht nur Stimmungen, sondern auch Ideen, Gedanken, Vorstellungen – ja, auch politische Visionen – zum Ausdruck bringen oder befeuern“. Zum Beethoven-Jahr 2020 bekräftigte er in der F.A.Z. seine Überzeugung, dass „große Musik das Hier und Jetzt zu transzendieren vermag, dass sie universell ist und dass sie trösten, erheben – vor allem: Menschen miteinander verbinden kann“.

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Während seiner Zeit als Bundesfinanzminister pflegte Schäuble den Brauch, jedes Euro-Beitrittsland in einem drei- bis vierstündigen Konzert, dem er jeweils mit dankbar glühendem Gesicht folgte, musikalisch vorzustellen. „Manche fragen: Was soll das?“, räumte er im Dezember 2013 ein und entgegnete: „Täglich arbeiten wir in diesem Gemäuer an der Überwindung der Euro-Krise, da müssen wir uns von Zeit zu Zeit daran erinnern: warum, wozu, wofür.“ So verstand er es, mit einer eigenen, unabhängigen Sprache, die ihn auszeichnete, seinem Tun als Politiker einen Sinn zu geben. In Zeiten, da die Sinngebung von Kunst als Verzweckung eher aus umgekehrter Richtung von der Politik vorgenommen wird, bedeutet der Tod von Wolfgang Schäuble einen eminenten Verlust an politischer Klasse.

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Schäubles Sinn

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27.12.2023

In den Monaten nach dem Attentat auf ihn, als Wolfgang Schäuble im Krankenbett mit einem ­metallenen Apparat, den er „Foltergerät“ nannte, den Öffnungswinkel seines Kiefers vergrößerte, um wieder sprechen zu können, bat er seine Frau jeden Abend, bevor sie sein Zimmer verließ, ihm klassische Musik aufzulegen. Als er später gefragt wurde, ob er glaube, dass Musik heilen könne, antwortete er: „Sie hat eine tröstende Kraft. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Musik kann eine Heilung sicher positiv beeinflussen. Doch bislang habe ich nicht gehört, dass man Konzertbesuche bei der Krankenkasse abrechnen kann.“

Schäubles Liebe zur Musik war so ernst, dass sie keine Sentimentalität vertrug. Er war auch „für Berieselung nicht geschaffen“ und hörte Musik immer mit........

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