Moment Mal, Benzin und Berlin zusammen in einem Lied, das hatten wir doch gerade erst? Richtig: „Ohne Benzin“ von der 1997 geborenen Sängerin Domiziana wurde 2022 über das Medium „TikTok“ zum Sommerhit und hielt sich wochenlang an der Spitze der Single-Charts. Es heißt darin: „Er nimmt keine E's, er ist high ohne Benzin“, während das lyrische Ich bedauert: „Meine Liebe kalt wie der Winter in Berlin“. Gerade erst am Freitagabend konnte man sich übrigens von diesem Lied einen frischen Eindruck machen bei einer Sonderfolge des ZDF Magazin Royale (die, nebenbei gesagt, was theatralisch inszenierte Livemusik im deutschen Fernsehen betrifft, neue Maßstäbe gesetzt hat).

Am Freitag wurde außerdem die neue Single von Herbert Grönemeyer veröffentlicht, und auch sie dreht sich um fehlende Wärme: „Kaltes Berlin“ ist allerdings kein Autotune-Rap, sondern eine seiner typischen Klavierballaden, diesmal über den Schmerz der Einsamkeit und über mangelnde Solidarität in der Hauptstadt. Er singt, wie wir vermuten, auf natürliche Weise, noch immer ziemlich high.

Die Szenerie wird mit wenigen Worten geschickt umrissen: „Nebel verfängt im Laternenlicht / Ein Winternachtstraum, der auf der Stelle tritt“. Von Weihnacht kann hier schon keine Rede mehr sein, die Stimmung ist eher die von Purcells „Cold Song“. Aber immerhin fleht Grönemeyer nicht „Let me freeze again to death“, sondern „Will noch nicht geh'n, hab' mich grad warm gemacht“. Leider ist es eine Party der Einzelgänger: „Kurzstrecke bis zum Gendarmenmarkt / Die kalte Luft duftet nach Kuchen und Wein“, aber Achtung, Schlüsselstelle! : „Alle zusammen allein“.

Die „Berliner Zeitung“ entdeckte sogleich Bezüge zu Tucholsky und Nietzsche, merkte aber auch spöttisch an, am Gendarmenmarkt sei doch gerade eine „nervige Baustelle“. Dabei sind wir doch im Nebel der Lieddichtung!

Der Refrain ist allerdings ziemlich neblig: „Die Stadt scheint versunken / In Feuеr, Rauch und Benzin / Vielleicht sind wir morgеn längst nicht mehr hier/ Im kalten Berlin“. Wie kann es so kalt sein, wo es brennt? Wie kann sich einer darüber beklagen, der vor Jahren doch sang: „Zünd die Feuer an, damit ich dich finden kann“? Warum überhaupt Benzin – vielleicht einfach nur, weil man sich schwer einen Reim auf Berlin machen kann? Wer sehr böse wollte, könnte gar fragen: Meint er das „Vielleicht sind wir morgen längst nicht mehr hier“ etwa im Sinne von „Deutschland schafft sich ab“?

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Aber nein – alles andere, auch das Musikvideo mit einer einsamen Frau, die am Ende doch Anschluss findet, deutet darauf hin, dass der Sänger nur die Transit-Mentalität der Hauptstadt, in der er selbst seit 15 Jahren lebt, umbiegen will in gemeinschaftliche Identifikation, ein bisschen mehr vom Glück-auf-Gefühl seiner alten Bochum-Hymne nach Berlin bringen möchte, das gerade so ganz andere Schlagzeilen macht. Klar wird das am Schluss, wenn der zunächst so kritisch wirkende Song Richtung Stadtmarketing abbiegt, „hier, in unserm Berlin“: Es ist eine gesungene Predigt, höchste Zeit mal wieder, dass sich was dreht – und wer da nicht ein bisschen mit die Daumen hält, hat ein zu kaltes Herz.

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Berlin, wie es singt und weint

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20.11.2023

Moment Mal, Benzin und Berlin zusammen in einem Lied, das hatten wir doch gerade erst? Richtig: „Ohne Benzin“ von der 1997 geborenen Sängerin Domiziana wurde 2022 über das Medium „TikTok“ zum Sommerhit und hielt sich wochenlang an der Spitze der Single-Charts. Es heißt darin: „Er nimmt keine E's, er ist high ohne Benzin“, während das lyrische Ich bedauert: „Meine Liebe kalt wie der Winter in Berlin“. Gerade erst am Freitagabend konnte man sich übrigens von diesem Lied einen frischen Eindruck machen bei einer Sonderfolge des ZDF Magazin Royale (die, nebenbei gesagt, was theatralisch inszenierte Livemusik im deutschen Fernsehen betrifft, neue Maßstäbe gesetzt hat).

Am Freitag wurde außerdem die neue Single von Herbert Grönemeyer veröffentlicht, und auch sie dreht sich um fehlende Wärme: „Kaltes Berlin“........

© Frankfurter Allgemeine


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