Wann immer es um das Thema Fehlerkultur geht, liegt das größte Missverständnis darin, dass es angeblich um das Suchen, Finden und die Zuschreibung von Fehlern geht. Kurz: um Schuld. Darum geht es aber gar nicht. Vielmehr geht es um einen sensiblen Umgang mit den Fehlern. Der Fall des deutsch-amerikanischen Medizin-Nobelpreisträgers Thomas C. Südhof zeigt mit beispielloser Klarheit, warum eine falsch verstandene Fehlerkultur vor allem eines erzeugt, noch bevor der erste gravierende Fehler aufgearbeitet ist: Ängste.

Fehler sind angstbesetzt, erst recht bei jungen Menschen, erst recht in diesen Zeiten. Südhof hat eine Website unter dem Titel „Integritätsinitiative“ online gestellt. Es ist die Reaktion seines Stanford-Teams auf Vorwürfe, die ihm in jüngster Zeit vermehrt auf der Onlineplattform „Pub Peer“ vorgehalten wurden – und großteils inzwischen korrigierte Fehler betreffen. Südhofs Antwort soll aber offensichtlich mehr sein als Rechtfertigung: Sie soll maximale Transparenz schaffen. Eine entwaffnende Transparenz. Und Entlastung.

Der 68-jährige Nobelpreisträger hat in den vergangenen Wochen erlebt, wie die mit smarten Algorithmen ausgestatteten Plagiatsjäger mittlerweile ganz leicht auch geringfügige, verzeihliche Fehler beim Zusammenstellen eines Papers aufdecken, die ohne Künstliche Intelligenz praktisch unsichtbar blieben. Die Konsequenz liegt auf der Hand: Der Druck wächst. Südhof sagt, er habe junge Mitarbeiter verzweifeln sehen – und verloren.

Die Aufarbeitung durch seine Forschungsgruppe ist deshalb durchaus auch psychotherapeutisch zu verstehen. Sie dient der Resilienz, dem Teamspirit, dem Lernen aus Fehlern. Sie ist nach vorne gedacht. In dem zuletzt am häufigsten benutzten Kontext der Pandemiebewältigung wird Aufarbeitung dagegen von vielen nach hinten gedacht. Sie ist dann vor allem eines: Anklage. Südhof zeigt beispielhaft, weshalb die Gesellschaft das keinen Schritt voranbringt. Weil Aufarbeitung, so verstanden, eine Kultur der Angst nährt, und die ist der natürliche Feind einer offenen Fehlerkultur.

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Für eine Fehlerkultur ohne Angst

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10.04.2024

Wann immer es um das Thema Fehlerkultur geht, liegt das größte Missverständnis darin, dass es angeblich um das Suchen, Finden und die Zuschreibung von Fehlern geht. Kurz: um Schuld. Darum geht es aber gar nicht. Vielmehr geht es um einen sensiblen Umgang mit den Fehlern. Der Fall des deutsch-amerikanischen Medizin-Nobelpreisträgers Thomas C. Südhof zeigt mit beispielloser Klarheit, warum eine falsch verstandene Fehlerkultur vor allem eines erzeugt, noch bevor der erste gravierende Fehler aufgearbeitet ist: Ängste.

Fehler sind angstbesetzt, erst recht bei jungen Menschen, erst recht........

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