Es darf behauptet werden, der Mond bestehe aus Gorgonzola, mittels des Impfstoffs würden Chips in den Körper eingeführt, und die Juden strebten die Weltherrschaft an. Das Recht auf Meinungsfreiheit schützt solchen Unsinn. Juristisch ist er darum nicht interessant. Soziologisch hingegen schon. Wie kommt jemand beispielsweise zur Meinung, im Gazastreifen vollziehe sich soeben ein Genozid, Israel strebe die Auslöschung der Palästinenser an? Wie kommt man darauf, in der dortigen Lage die des Warschauer Ghettos im Jahr 1944 wiederzuerkennen? Was bringt einen auch nur dazu, die Vertreibung der Palästinenser nach 1948 – übrigens nicht die der Juden aus arabischen Ländern – mit der Ermordung von sechs Millionen Juden durch die Nationalsozialisten zu vergleichen, Holocaust hier, Nakba dort?

Es sind oft Intellektuelle und Künstler sowie Studenten, die solche Ansichten pflegen. Den Studenten mag man ihre Jugend zugutehalten; sie sind genauso dumm, wie wir damals waren, und viele von ihnen wissen über die Geschichte Israels so viel wie über den Mond. Für die Unterzeichner offener Briefe, die Schriftsteller, Max-Planck-Direktoren, Historiker und Twitterer gilt diese Entschuldigung nicht. Dass ihre Vergleiche nicht zur Erkenntnis der Lage führen, ist kein Zufall, denn wozu sie führen sollen, ist in erster Linie Empörung. Durch die „reductio ad hitlerum“ (Leo Strauss) begründet man das höchste moralische Recht, den Versuch Israels zu verurteilen, des Terrors der Hamas Herr zu werden.

Weltweit empören sich Akademiker, Literaten und Künstler, die sich selbst links vorkommen, über Israel. Ein Grund dafür dürfte in der besonderen Funktion der Palästinenser im intellektuellen Diskurs liegen. Es ist eine Funktion, die weder den Uiguren noch den Syrern oder Armeniern jemals zugebilligt wurde. Das Unrecht, das den Palästinensern tatsächlich geschieht und an dem sie selbst beteiligt sind, gilt vielen Intellektuellen als exzeptionell und Israel darum als außerordentliche Macht des Unrechts. Die Komplexitäten und Verschuldungsverstrickungen des Nahen Ostens aus Unkenntnis oder unwillig hinter sich lassend, wird mit pochendem Herzen behauptet, man wisse ganz genau, wer hier seit einem Dreivierteljahrhundert der Bösewicht sei: der jüdische Staat nämlich.

Das erfüllt ein Bedürfnis der intellektuellen und ästhetischen Linken. Sie bedarf nämlich seit Langem schon einer Nachfolgefigur für das Proletariat. Selbst durchaus bourgeois sich im Milieu der Galerien, Literaturhäuser, Rundfunkanstalten und Universitäten bewegend, hatte sie stets den Anspruch, für die Befreiung der Geknechteten zu kämpfen, so unwahrscheinlich es auch war, dass zu solcher Befreiung Kunstwerke, Essays und offene Briefe einen Beitrag leisten könnten.

Das Proletariat selbst wusste von diesen Sympathien der Intellektuellen meist gar nichts. Allmählich hatte sich die westliche Linke darum an Geschichte ohne Klassenbewusstsein zu gewöhnen. Also musste ein Ersatzproletariat her. Das sind derzeit die Palästinenser. Sie werden zu Opfern des Kapitalismus, des Kolonialismus, der Amerikaner und Israels stilisiert. Das ganze Unheil der Welt konzentriert sich in ihrem Schicksal. Ihr Leid ist maßlos, und weil der Maßstab des Maßlosen der Holocaust ist, muss alles darangesetzt werden, einen Genozid an den Palästinensern für wahrscheinlich, für kurz bevorstehend und jedenfalls beabsichtigt zu erklären.

Entsprechend erscheinen die Palästinenser selbst als völlig unschuldig an ihrer Lage. Sie leben in einem „Freiluftgefängnis“, auch wenn dort Milliarden in den Tunnelbau und den Waffenkauf gesteckt werden. Der Terror, der von der PLO, Hamas und Hizbullah seit Jahrzehnten ausgeht, wird als legitimer Widerstand gedeutet, auch wenn noch niemand hat erklären können, worin die Widerstandsleistung der Erschießung von Sportlern, der Sprengung von Nahverkehrsbussen oder der Vergewaltigung von jüdischen Frauen liegen soll. Hauptsache, Kampf, lautet die Devise, und man versorgt sich durch Demonstrationen auf dem Unicampus, vollmundige Interviews und Tweets mit dem Gefühl, solidarisch gewesen zu sein.

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Sie halten das für politisches Handeln. Dem liegt ein verzweifelter Fehlschluss zugrunde. Weil man nichts anderes hat, glaubt man daran, dass das wenige, das man hat, eine Gesinnung beispielsweise, eine wichtige Rolle spielt. Anstatt sich dieser Tatsache zu stellen, bewegt man sich weiter in der Illusion der Wirksamkeit, und zwar einzig und allein, weil sie eine schöne Vorstellung ist. Es wird von der Verantwortung der Schriftsteller geredet, aber damit im Grunde nur die Einbildung konsumiert, es komme auf die Schriftsteller an. Man kann eine Welt beklagen, in der sie und ihre Empörungen kaum eine Rolle spielen. Doch solang viele ihrer Empörungen so blind und wirr sind wie diejenigen über Israel, wird sich daran nichts ändern.

QOSHE - Eine Illusion von Wirksamkeit - Jürgen Kaube
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Eine Illusion von Wirksamkeit

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05.01.2024

Es darf behauptet werden, der Mond bestehe aus Gorgonzola, mittels des Impfstoffs würden Chips in den Körper eingeführt, und die Juden strebten die Weltherrschaft an. Das Recht auf Meinungsfreiheit schützt solchen Unsinn. Juristisch ist er darum nicht interessant. Soziologisch hingegen schon. Wie kommt jemand beispielsweise zur Meinung, im Gazastreifen vollziehe sich soeben ein Genozid, Israel strebe die Auslöschung der Palästinenser an? Wie kommt man darauf, in der dortigen Lage die des Warschauer Ghettos im Jahr 1944 wiederzuerkennen? Was bringt einen auch nur dazu, die Vertreibung der Palästinenser nach 1948 – übrigens nicht die der Juden aus arabischen Ländern – mit der Ermordung von sechs Millionen Juden durch die Nationalsozialisten zu vergleichen, Holocaust hier, Nakba dort?

Es sind oft Intellektuelle und Künstler sowie Studenten, die solche Ansichten pflegen. Den Studenten mag man ihre Jugend zugutehalten; sie sind genauso dumm, wie wir damals waren, und viele von ihnen wissen über die Geschichte Israels so viel wie über den Mond. Für die Unterzeichner offener Briefe, die Schriftsteller, Max-Planck-Direktoren, Historiker und Twitterer gilt diese Entschuldigung nicht. Dass ihre Vergleiche nicht zur Erkenntnis der Lage führen, ist kein Zufall, denn wozu sie führen sollen, ist........

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