Immer häufiger erleben Bahnfahrer in Deutschland diese Situation: Der Zug fuhr mit Verspätung ab, im Bord-Bistro funktioniert die Mikrowelle nicht, die Reservierungen werden nicht angezeigt, einzelne Toiletten sind nicht benutzbar, die Verspätung erhöht sich wegen Schafen im Gleiskörper, eines vorausfahrenden Zugs oder den berühmten Verzögerungen im Betriebsablauf.

Inzwischen reagiert das Zugpersonal auf diese ewige Wiederkehr der Unzulänglichkeiten gern sarkastisch und jedenfalls fatalistisch. Was sollen sie auch sagen? Ihre Chefs kündigen an, die Verwirklichung des Taktfahrplans, der für mehr Pünktlichkeit sorgen soll, von 2030 auf 2048 oder 2070 zu verschieben. Die Politik hat die Bahn jahrzehntelang marodegespart und auf Verschleiß fahren lassen. Der Einsatz des Verkehrsministeriums für die Bahn ist, vorsichtig formuliert, zurückhaltend. In der Schweiz wird pro Einwohner das Fünffache, in Österreich das Dreifache in die Bahn investiert.

Damit sind wir bei der Haushaltsrede, die Kanzler Olaf Scholz (SPD) soeben gehalten hat. Denn das, was die Fahrgäste der Bahn erleben, ist für die Stimmung im Land repräsentativ. Überall macht sich Sarkasmus breit: wenn die Rede auf den Facharbeitermangel kommt oder auf die Zuwanderung schwach qualifizierter Personen, auf das Schulsystem oder den Stand der Digitalisierung in der Verwaltung. Gerade hat das Bundesverfassungsgericht die Regierung angehalten, vorsichtiger mit dem Begriff der Notlage umzugehen, und ihr untersagt, Mittel der aus einer solchen Notlage begründeten Corona-Hilfe für die Klimapolitik zu verwenden, nur weil es sich hier um die nächste Notlage handele.

Die Schuldenbremse ist die kon­stitutionalisierte Ausgabendisziplin. Gegenüber dem Charakter der staatlichen Ausgaben ist sie blind. Das scheint merkwürdig, unterscheidet sich staatlicher Konsum doch von staatlichen Investitionen. Das führen alle Gegner der Schuldenbremse ins Gefecht. Ausgaben für Bildung, In­frastruktur und ökologischen Umbau könnten doch nicht als Verschwendung stigmatisiert werden. Wenn der Ukrainekrieg eine Notlage sei, die unter dem Titel „Sondervermögen“ besondere Schuldenaufnahme erlaube, dann herrsche doch an den Schulen, bei der Bahn oder in Bezug auf das Klima ebenfalls eine Notlage.

Ein Staat, der in diesem Glauben agiert, zieht allerdings einen ungeheuren Lobbyismus heran, der nur damit beschäftigt ist, die Anspruchsberechtigung seiner Klientel zu demonstrieren. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Argument „Systemrelevanz“, „Innovation“ lautet oder „soziale Gerechtigkeit“, ob also mit zukünftigen Erträgen oder gegenwärtigen Unerträglichkeiten argumentiert wird. Längst leben wir in einer Situation, in der für praktisch jede staatliche Ausgabe oder Steuererleichterung die allerbesten Gründe aufgeboten werden, für Gastwirte und Luftfahrtunternehmen ebenso wie für Kurorte, Hausbesitzer und Windräder. Tatsächlich kann sich diesen Gründen niemand verschließen, ohne entweder als herzlos oder zukunftsblind dazustehen.

Von alldem war in der Haushaltsrede des Kanzlers jedoch nicht die Rede. Das ist es, was an Olaf Scholz irritiert. Er sieht nirgendwo ein Dilemma, nirgendwo einen Konflikt oder einen Anlass für Festlegungen. Nichts vermag, politische Leidenschaft in ihm zu entbinden. Vor Publikum spult er die bekannten Redensarten ab: „You’ll never walk alone“, „haken wir uns unter“, „wir sind mitten im Aufbruch“, „kraftvoll in die Infrastruktur investieren“, „Sorgfalt geht vor Tempo“. So meinen wir es auf den Reklameplakaten der Bahn zu lesen, während wir in Hamm stundenlang auf den Anschlusszug warten. Zeitenwende, ein Aufbruch, der dem ins Industriezeitalter gleiche, Modernisierung des Landes – die Leute warten auf konkrete Entscheidungen, und Scholz teilt ihnen mit, man werde Schwerpunkte setzen (ach?) und Ausgaben beschränken (tatsächlich?).

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Nein, Olaf Scholz ist nicht „der Klempner der Macht“, als den ihn Friedrich Merz (CDU) bezeichnete, denn so vage reden Klempner nicht. Olaf Scholz weiß gar nicht, was er reparieren will. Das Karlsruher Urteil, sagte er im Bundestag, werde nichts im Alltag der Bürger ändern. Dann wären wir aber nicht in einer Notlage. Sondern die Notlage des Landes wäre von seinem Normalzustand gar nicht zu unterscheiden. Ganz wie bei der Bahn.

QOSHE - Notlage als Normalzustand - Jürgen Kaube
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Notlage als Normalzustand

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28.11.2023

Immer häufiger erleben Bahnfahrer in Deutschland diese Situation: Der Zug fuhr mit Verspätung ab, im Bord-Bistro funktioniert die Mikrowelle nicht, die Reservierungen werden nicht angezeigt, einzelne Toiletten sind nicht benutzbar, die Verspätung erhöht sich wegen Schafen im Gleiskörper, eines vorausfahrenden Zugs oder den berühmten Verzögerungen im Betriebsablauf.

Inzwischen reagiert das Zugpersonal auf diese ewige Wiederkehr der Unzulänglichkeiten gern sarkastisch und jedenfalls fatalistisch. Was sollen sie auch sagen? Ihre Chefs kündigen an, die Verwirklichung des Taktfahrplans, der für mehr Pünktlichkeit sorgen soll, von 2030 auf 2048 oder 2070 zu verschieben. Die Politik hat die Bahn jahrzehntelang marodegespart und auf Verschleiß fahren lassen. Der Einsatz des Verkehrsministeriums für die Bahn ist, vorsichtig formuliert, zurückhaltend. In der Schweiz wird pro Einwohner das Fünffache, in Österreich das Dreifache in die Bahn investiert.

Damit sind wir bei der Haushaltsrede, die Kanzler Olaf Scholz (SPD) soeben gehalten hat. Denn das, was die Fahrgäste der Bahn erleben, ist für die Stimmung im........

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