Was ist Aufklärung? Kants Antwort: Aufklärung ist das Ergebnis des Muts, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Die Aufklärung klärt also über Irrtümer auf, die soziale Unterstützung haben, denn sonst bedürfte es ja keines Muts. Doch was ist dieser „eigene“ Verstand, der dieser Unterstützung des Vorurteils entgegengesetzt wird? Woher hat man ihn? Und inwiefern ist er der je eigene Verstand, wenn ihn doch alle Menschen haben können? Kant verschärft die Frage noch, weil er verlangt, von diesem Verstand „ohne Leitung eines anderen“ Gebrauch zu machen. Ansonsten sei man unmündig. „Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat“, habe ich nicht nötig, selbst zu denken.

Die Aufklärung kämpft gegen die Trägheit an, gegen das Auswendiglernen, gegen das Abspulen von Phrasen, die man irgendwo aufgeschnappt hat. Ist dann Lesen und das Gelesene aufnehmen eine Form von Unmündigkeit? Hegel hat sich daran mit der Bemerkung gestört, der selbstdenkerisch auf eigene Rechnung gemachte Irrtum sei nicht besser als der von Autoritäten angenommene. Kant sieht das anders.

Man hole sich beim Versuch, selbst zu gehen, gewiss oft blaue Flecken, am Ende aber gelinge es doch. Wer sich aber von vornherein fremder Krücken bediene, so darf man ihn verstehen, bleibe stets auf sie angewiesen. Worauf will Kant mit solchen Vergleichen hinaus? Auf eine Sphäre, von der er sich Aufklärung erhofft: die Öffentlichkeit. Natürlich, schreibt er, müsse der Soldat gehorchen, der Bürger Steuern zahlen, der Pfarrer die Predigt nach der kirchlichen Maßgabe halten. Aber sie alle sollen ihre eigenen Gedanken publizieren dürfen. Denn hier sprächen sie zur Welt in uneingeschränkter Freiheit.

Tagsüber unmündig, abends aufgeklärt. Aufklärung ist insofern eine Kommunikationsutopie. Alle gehorchen, weil es ohne Gehorsam nicht geht, aber nach der Arbeit teilen sie in Journalen mit, was sie vom Gehorsam und allem anderen halten. Das mag sich kurios anhören: der Offizier als Gelehrter. Kants Aufsatz über die Aufklärung mündet aber in ein Lob des preußischen Staats, in dem man sich zu religiösen Fragen, also denen, die gewöhnlich am stärksten Vorschriften unterliegen, auch tagsüber frei verhalten könne. Er hofft, diese Freiheit zu denken werde sich all­mählich in der Freiheit zu handeln auswirken. Wir können uns die Frage, ob dem so ist, aufs Neue vorlegen.

QOSHE - Tagsüber unmündig, abends aufgeklärt - Jürgen Kaube
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Tagsüber unmündig, abends aufgeklärt

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22.04.2024

Was ist Aufklärung? Kants Antwort: Aufklärung ist das Ergebnis des Muts, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Die Aufklärung klärt also über Irrtümer auf, die soziale Unterstützung haben, denn sonst bedürfte es ja keines Muts. Doch was ist dieser „eigene“ Verstand, der dieser Unterstützung des Vorurteils entgegengesetzt wird? Woher hat man ihn? Und inwiefern ist er der je eigene Verstand, wenn ihn doch alle Menschen haben können? Kant verschärft die Frage noch, weil er verlangt, von diesem Verstand „ohne Leitung eines anderen“ Gebrauch zu machen. Ansonsten sei man........

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