Das Internet hat Deutschland zu einem Land gemacht, in dem die Menschen ununterbrochen Bekenntnisse ablegen, freiwillig und zu jedem beliebigen Thema. Diese Woche betraf das den Fall des Musikers Gil Ofarim, der zwei Jahre lang behauptet hatte, er sei in einem Leipziger Nobelhotel nicht bedient worden, weil er Jude ist. Das war gelogen, wie Ofarim vor Gericht zugab.

Das Bekenntnis stand schnell fest: Ofarim hat allen geschadet, die wirklich unter Antisemitismus leiden, weil in Zukunft jeder, der sich als Opfer präsentiert, unter Verdacht stehen könnte. So argumentierten nicht nur der Zentralrat der Juden in Deutschland und der Antisemitismusbeauftragte des Bundes, von denen man eine Stellungnahme erwarten kann, sondern auch viele Bürger in den sozialen Medien. Diesmal lagen viele richtig, vor zwei Jahren lagen viele falsch.

Damals war es derselbe Bekenntnisdrang, der die Lüge Ofarims erst verbreitet hatte. Ofarim hatte ein Video mit seiner Lüge auf Instagram aufgenommen, und weil jedes solcher Videos eine Meinung verlangt, ein Like, einen Kommentar, legten sich alle fest, wie schrecklich es sei, dass in diesem Leipziger Hotel ein Judenhasser arbeite. Je mehr Bekenntnisse das Video sammelte, umso mehr verbreitete es sich.

Der Antisemitismusbeauftragte war bestürzt, der Zentralrat erschrocken. Das Hotel wurde angefeindet, der beschuldigte Mitarbeiter beurlaubt. Eine gerichtliche Klärung lag in weiter Ferne, die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen auf, aber auf deren Ergebnis konnte niemand warten. Soll man etwa schweigen, wenn Juden verfolgt werden?

Die Lehre aus dem Fall Ofarim kann nicht sein, dem nächsten Opfer etwas zu unterstellen. Niemand möchte in einem Land leben, in dem ein Jude, der von Hass berichtet, erst einmal gefragt wird, was er sich denn da wieder ausgedacht habe. Das Gleiche gilt für ein Land, in dem solche Vorfälle schweigend an die Gerichte verwiesen werden, um dann nach zwei Jahren ein Urteil zu hören, ohne dass in der Zwischenzeit darüber geredet wurde, was wirklich geschah.

Die Folge ist, dass wir in einem Land leben, in dem eine falsche Anschuldigung höchste Aufmerksamkeit erhalten kann. Das schafft erst die Opfer, die es vorher, weil die Anschuldigung falsch war, nicht gab. Der Hotelmitarbeiter, der damals beschuldigt wurde, ist bis heute in psychologischer Behandlung.

Der vom Internet angefachte Bekenntnistrieb verschlimmert dieses Problem. Wer von Anschuldigungen nicht nur hört, sondern sie sich zu eigen macht, ist kein Unbeteiligter mehr. Er hat etwas zu verlieren. Für alle, die vor zwei Jahren im Internet schrieben, das Leipziger Hotel solle sich schämen, ist Ofarims Geständnis eine persönliche Niederlage. Sie haben mitgemacht.

Als später Zweifel aufkamen, ob der Vorwurf stimmt, waren sie erst ganz still, weil es sie schlecht aussehen ließ, und dann besonders wütend auf den Lügner, weil er auch ihnen etwas angetan hatte. Beides ist skurril, weil plötzlich Millionen von dem Vorfall persönlich betroffen sind.

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Das hemmt die Wahrheitsfindung. Vielleicht hätte Ofarim seine Lüge früher einräumen können, wenn sich nicht so viele Menschen auf sie festgelegt hätten. So musste er ihren Zorn fürchten. Die Leute treten nicht wie Zuhörer auf, sondern wie Nebenkläger, die kaum ein Interesse daran haben können, dass der Fall sich als unwahr erweist. Wer von einem Skandal hört, sollte in Zukunft lieber Aufklärung fordern statt Sühne. Das schadet ausschließlich dem Scharlatan.

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83 Millionen Nebenkläger

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02.12.2023

Das Internet hat Deutschland zu einem Land gemacht, in dem die Menschen ununterbrochen Bekenntnisse ablegen, freiwillig und zu jedem beliebigen Thema. Diese Woche betraf das den Fall des Musikers Gil Ofarim, der zwei Jahre lang behauptet hatte, er sei in einem Leipziger Nobelhotel nicht bedient worden, weil er Jude ist. Das war gelogen, wie Ofarim vor Gericht zugab.

Das Bekenntnis stand schnell fest: Ofarim hat allen geschadet, die wirklich unter Antisemitismus leiden, weil in Zukunft jeder, der sich als Opfer präsentiert, unter Verdacht stehen könnte. So argumentierten nicht nur der Zentralrat der Juden in Deutschland und der Antisemitismusbeauftragte des Bundes, von denen man eine Stellungnahme erwarten kann, sondern auch viele Bürger in den sozialen Medien. Diesmal lagen viele richtig, vor zwei Jahren lagen viele falsch.

Damals war es derselbe Bekenntnisdrang, der die Lüge Ofarims erst verbreitet hatte. Ofarim hatte ein Video........

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