Der großgewachsene Mann setzt sich im nahezu leeren Saal des Programmkinos genau vor die beiden Freunde. Die Wahl der Plätze ist schließlich frei. Die beiden können die Leinwand jetzt nur noch sehen, wenn sie sich die Hälse verrenken. Oder sich umsetzen.

In dem großen Lichtspielhaus ist das Reservieren hingegen noch üblich, und nach langem Anstehen dürfen Mutter und Kinder ihre Sitzplätze an der Kasse auf einem Bildschirm auswählen. Gerne weiter hinten, dafür in erster Reihe vor dem Geländer, überlegen sie. Und suchen mit klebrigen Popkorneimern und Süßgetränken ihre Sitzreihe im schummrigen Kinosaal. Doch auf ihrem Platz – ausgerechnet auf dem Doppelsitz zum Kuscheln – sitzt bereits eine alte Dame.

Ihre Tasche, Jacke und Tuch hat sie über mehrere Sitze verteilt. Sie möchte nicht einen einzigen der von ihr belegten Plätze frei geben, weil sie noch auf ihre Tochter und die Enkel warte. Niemand ist so herzlos, eine alte Frau zu vertreiben. Auch nicht, wenn sich herausstellt, dass sie sich getäuscht haben muss, weil die von ihr Erwarteten bis zum Ende des Films nicht auftauchen.

Allerdings müssen die Mutter und ihre Kinder den ganzen Film lang am Rand außen sitzen, nur da sind noch Plätze frei. Aber vielleicht kommt bald jemand, der sie reserviert hat? Der Gedanke kann einen nervös machen, im Land der heiligen reservierten Liegen und Stühle.

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Womöglich wäre es doch besser, es gäbe noch Platzanweiser, die einen an den Sitzplatz führen. Obwohl auch da Fingerspitzengefühl gefragt ist. Sonst kann das zu Ungereimtheiten und dann zu ärgerlichen Reaktionen der Beteiligten führen – zumindest, wenn die Gäste keine festen Plätze haben und die Platzanweiserin in einem Programmkino wie ein Gott alle hin – und herschieben kann, die es sich bereits mit Weinschorle und Bruschetta auf den alten Sesseln gemütlich gemacht hatten.

Trotz allem bleibt ein Kinobesuch ein lohnendes Erlebnis – gerade, weil man nicht alleine schaut, sondern mit anderen. Das muss auch der großgewachsene Mann gedacht haben, der sich, nachdem er kurz draußen war, wieder genau vor die beiden Freunde setzt, obwohl sie sich schon einen neuen Platz gesucht haben. „Er hat sich gemerkt, dass er vor uns saß“, bemerkt einer der beiden trocken.

QOSHE - Weshalb bisweilen ein Platzanweiser gut wäre - Katharina Deschka
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Weshalb bisweilen ein Platzanweiser gut wäre

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27.11.2023

Der großgewachsene Mann setzt sich im nahezu leeren Saal des Programmkinos genau vor die beiden Freunde. Die Wahl der Plätze ist schließlich frei. Die beiden können die Leinwand jetzt nur noch sehen, wenn sie sich die Hälse verrenken. Oder sich umsetzen.

In dem großen Lichtspielhaus ist das Reservieren hingegen noch üblich, und nach langem Anstehen dürfen Mutter und Kinder ihre Sitzplätze an der Kasse auf einem Bildschirm auswählen. Gerne weiter hinten, dafür in erster Reihe vor dem Geländer, überlegen sie. Und suchen mit klebrigen Popkorneimern und Süßgetränken ihre Sitzreihe im schummrigen Kinosaal.........

© Frankfurter Allgemeine


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