Wie will die AfD bewahren, was sie überhaupt nicht kennt? Da die Partei sich regelmäßig als letzte Hüterin der deutschen Kultur aufspielt, möchte man doch meinen, ihre Politiker wären einigermaßen bewandert in der deutschen Märchen- und Sagenwelt. Alice Weidel, Bundesvorsitzende der AfD, belehrte die Zuhörer mit ihrem Beitrag zur Generaldebatte im Bundestag am Mittwoch eines Besseren.

Vorausgegangen war Weidels Selbstentlarvung eine Ansprache des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier im Schloss Bellevue, bei der er alle Demokraten dazu aufgerufen hatte, gegen Extremismus Position zu beziehen. Dabei fiel der Satz: „Wir lassen uns dieses Land nicht von extremistischen Rattenfängern kaputtmachen.“ Das wiederum veranlasste Weidel zu der Einlassung, der Bundespräsident habe die AfD-Wähler Ratten genannt. Da braucht wohl jemand Nachhilfe in Märchenkunde.

Die Brüder Grimm erzählen die Geschichte des Rattenfängers von Hameln wie folgt: Als es 1284 eine Nagerplage in Hameln gab, tauchte ein wunderlicher Mann auf, der sich als Rattenfänger ausgab und mit seinem Pfeifenspiel die Tiere anlockte, um sie aus der Stadt zu führen. Doch die Bürger der Stadt, nun befreit von der Plage, verweigerten ihm den ausgemachten Lohn. Zornig kehrte der Rattenfänger als Jäger zurück.

Er lockte, während alle Bürger in der Kirche versammelt waren, mit seinem Pfeifenspiel diesmal die Kinder der Hamelner aus der Stadt und verschwand mit ihnen in den Bergen. Einzig ein blindes und ein stummes Kind kehrten zurück, die anderen waren nie wieder gesehen.

Diese Sage ist bereits im 19. Jahrhundert in den metaphorischen Sprachgebrauch übergegangen und steht seither für eine verführerische Gestalt, welche die Naiven irreführt. Steinmeier, offenkundig sagenfester als Frau Weidel, hat die Wähler also keinesfalls indirekt als Ratten bezeichnet, sondern suggeriert, dass die AfD mit ihren demagogischen Reden Menschen fehlleitet, die das Ansinnen der AfD nicht durchschauen.

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Wenn er AfD-Wähler eines genannt hat, dann naiv. Dass Steinmeier mit seiner Einschätzung offenbar nicht ganz falsch liegt, zeigt der Nachgang zu Weidels Rede. Plötzlich bekunden Tausende AfD-Anhänger auf X (vormals Twitter) und Facebook mit einem Bild Zustimmung, das Mäuse mit Pappschildern zeigt und den Slogan: „Lieber eine Ratte mit Rückgrat, als ein Demo-Schaf mit FFP2-Maske!“

Muss das sein? Entweder ist das deutsche Märchengut heute wirklich kaum noch bekannt oder, und das ist deutlich wahrscheinlicher, viele Menschen glauben der AfD jeden Unsinn, der dem Zweck dient, gegen politische Gegner zu hetzen, völlig gleich, ob ihr Gerede zutrifft. Märchenstunde ist in den Reden von Alice Weidel ohnehin ständig, denn mit der Wahrheit nimmt es die Partei nicht sehr genau.

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Alice Weidel, die Rattenfängerin

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02.02.2024

Wie will die AfD bewahren, was sie überhaupt nicht kennt? Da die Partei sich regelmäßig als letzte Hüterin der deutschen Kultur aufspielt, möchte man doch meinen, ihre Politiker wären einigermaßen bewandert in der deutschen Märchen- und Sagenwelt. Alice Weidel, Bundesvorsitzende der AfD, belehrte die Zuhörer mit ihrem Beitrag zur Generaldebatte im Bundestag am Mittwoch eines Besseren.

Vorausgegangen war Weidels Selbstentlarvung eine Ansprache des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier im Schloss Bellevue, bei der er alle Demokraten dazu aufgerufen hatte, gegen Extremismus Position zu beziehen. Dabei fiel der Satz: „Wir lassen uns dieses Land nicht von extremistischen Rattenfängern kaputtmachen.“ Das wiederum veranlasste Weidel........

© Frankfurter Allgemeine


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