Dem früheren britischen Premierminister Winston Churchill wird das Zitat zugeschrieben, dass die Demokratie die schlechteste Regierungsform sei, mit Ausnahme aller anderen Regierungsformen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden seien. In der erhitzten Debatte nach dem haushaltspolitischen Urteil des Bundesverfassungsgericht ist man geneigt, diese Weisheit auch für die Schuldenbremse zu beanspruchen: Die Schuldenbremse ist die schlechteste aller Fiskalregeln, mit Ausnahme aller anderen, die ausprobiert wurden.

Zu Recht zwar weisen viele Ökonomen auf das große Manko der Schuldenbremse hin, dass die Obergrenze für die strukturelle öffentliche Verschuldung im Jahr von 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung auf der Ausgabenseite nicht zwischen Konsum und Investitionen unterscheide. Ein noch größeres Manko aber wäre es, würde diese Unterscheidung in die Schuldenbremse eingebaut. Denn dem Ideenreichtum der Politiker, Konsum in Investitionen umzudeuten, sind keine Grenzen gesetzt in einer Zeit der sprachlichen Überhöhung, in der schon simple Umverteilung im Sozialstaat als Investition in den Zusammenhalt der Gesellschaft interpretiert wird. In einer Zeit, in der vielen öffentliche Schwimmbäder als Investitionen gelten, obwohl es doch um Badespaß und nicht um Erträge durch mehr Produktivität geht.

Die Politik würde fast alles zur Investition erklären, falls „investive Schulden“ keiner Grenze unterlägen. Die Schuldengrenze wäre wertlos. Unabhängige Gremien zur Definition von Konsum und Investitionen können dem keinen Riegel vorschieben, weil das Problem nur in den Streit über die Auswahl der Kommissionsmitglieder verlagert würde.

Ein anderer kluger Vorschlag des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium läuft darauf hinaus, nur die Nettoinvestitionen von der Schuldenregel auszunehmen. Doch der verlotterte Zustand der öffentlichen Infrastruktur liegt nicht daran, dass netto zu wenig Geld in neue Bauprojekte gesteckt wurde. Seit Jahrzehnten hat die Politik vor allem zu wenig für den Erhalt der bestehenden Infrastruktur ausgegeben. Diesen Missstand behebt eine Nettoinvestitionsregel nicht.

Das Kernproblem der Finanzpolitik ist eben nicht, dass wegen der Schuldenbremse zu wenig Geld für Investitionen vorhanden ist. Das Problem ist die Kurzsichtigkeit, mit der die Politik Konsum und Umverteilung Vorrang einräumt vor Ausgaben für die Infrastruktur. Die Kurzsichtigkeit, mit der die Politik lieber auf Kredite als auf Steuern zugreift. Man kann das den Politikern anlasten, weil sie vor der nächsten Wahl auf Wählerstimmen schielen. Man kann die Kurzsichtigkeit auch den Wählern anlasten, weil sie auf die Versprechungen der Politiker hereinfallen. So oder so ist es der Wunsch, den Grenzen eines knappen Budgets zu entfliehen. Dieser Wunsch prägt auch die Idee, für scheinbar gewaltige Zukunftsaufgaben wie Verteidigung oder Klimaschutz neue Schuldentöpfe in der Verfassung einzurichten.

Die Schuldenbremse setzt diesen Träumereien des nahezu unbegrenzten Budgets ein gewisses Ende. Sie zwingt zu einer Diskussion, wie viel und was die öffentliche Hand sich leisten will und kann. Das ist ein heilsamer Druck vor allem, weil die Politik in den Sozialkassen gewaltige Ansprüche aufgetürmt hat, die in den kommenden Jahrzehnten bedient werden müssen. Wenn das Korsett der Schuldenbremse dazu führt, dass auch sozialpolitische Umverteilung hinterfragt und zugunsten von echten Investitionen beschnitten wird, ist das nur wünschenswert.

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Manche Ökonomen argumentieren gegen die Schuldenbremse und andere Fiskalregeln, dass der Staat sich anders als Privathaushalte unbegrenzt in die Zukunft verschulden könne. Das stimmt so nicht. Die Kapitalmärkte bestrafen höhere Verschuldung mit höheren Zinsen und gelegentlich auch mit Finanzkrisen. Doch selbst wenn der deutsche Verschuldungsspielraum noch nicht ausgeschöpft ist, wären immer mehr Staatsschulden nicht geboten. Mit jedem Euro, den die Regierung mehr ausgibt, entfernt Deutschland sich von der Markt- hin zu einer Staatswirtschaft, die das Wachstum hemmt und den Bürgern mehr wirtschaftliche Freiheit nimmt. Auch dem beugt die Schuldenbremse ein wenig vor.

Dafür ist es notwendig, dass die Fiskalregel verständlich ist. Je mehr die Ökonomen an der Schuldenbremse mit nachvollziehbaren Gründen nachjustieren und perfektionieren, desto weniger Bindungskraft wird sie entfalten. Abschreckendes Beispiel ist das deutsche Steuerrecht. Nur einfache Regeln, die der Bürger verstehen kann, sind gute Regeln.

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Hände weg von der Schuldenbremse!

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09.12.2023

Dem früheren britischen Premierminister Winston Churchill wird das Zitat zugeschrieben, dass die Demokratie die schlechteste Regierungsform sei, mit Ausnahme aller anderen Regierungsformen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden seien. In der erhitzten Debatte nach dem haushaltspolitischen Urteil des Bundesverfassungsgericht ist man geneigt, diese Weisheit auch für die Schuldenbremse zu beanspruchen: Die Schuldenbremse ist die schlechteste aller Fiskalregeln, mit Ausnahme aller anderen, die ausprobiert wurden.

Zu Recht zwar weisen viele Ökonomen auf das große Manko der Schuldenbremse hin, dass die Obergrenze für die strukturelle öffentliche Verschuldung im Jahr von 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung auf der Ausgabenseite nicht zwischen Konsum und Investitionen unterscheide. Ein noch größeres Manko aber wäre es, würde diese Unterscheidung in die Schuldenbremse eingebaut. Denn dem Ideenreichtum der Politiker, Konsum in Investitionen umzudeuten, sind keine Grenzen gesetzt in einer Zeit der sprachlichen Überhöhung, in der schon simple Umverteilung im Sozialstaat als Investition in den Zusammenhalt der Gesellschaft interpretiert wird. In einer Zeit, in der vielen öffentliche........

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