Deutschland hat einen neuen Rekord erreicht. Mit Ausnahme des ersten Pandemiejahres 2020 haben die Deutschen seit 50 Jahren noch nie so wenig gearbeitet wie im vergangenen Jahr. Die durchschnittliche Jahresarbeitszeit der Erwerbstätigen betrug nur noch 1342 Stunden. Im Kreis der OECD-Staaten dürfte Deutschland – wie schon im vergangenen Jahrzehnt – wieder die rote Laterne einnehmen.

Diese Entwicklung ist auf der einen Seite durchaus positiv. Wer möchte nicht weniger arbeiten, wenn er es sich leisten kann? Das ist das gute Recht jedes Einzelnen. Doch für Deutschland als Ganzes stellt sich zunehmend die Frage, ob wir uns die geringe Jahresstundenzahl noch leisten können, wenn überall über Facharbeitermangel und fehlendes Ser­vicepersonal geklagt wird. Das ist die Kehrseite der Medaille.

Wie sehr der Ausfall von produktiver Arbeitszeit das Wachstum drückt, zeigte sich deutlich in den vergangenen beiden Jahren. In einer außerordentlichen Sonderentwicklung stieg der Krankenstand 2022 drastisch um durchschnittlich 3,8 Arbeitstage. Im vergangenen Jahr hat er weiter leicht auf 15,2 Tage zugelegt.

Die Ursache des hohen Krankenstands ist noch nicht endgültig geklärt. Ein oft genannter Grund ist, dass die Deutschen nach der sozialen Isolation und dem besonderen Maskenschutz während der Corona-Pandemie zeitweise anfälliger für Erkältungskrankheiten geworden seien.

Aus ökonomischer Sicht wäre es auch plausibel, dass Arbeitnehmer sich heutzutage schon bei kleineren Infekten schneller krankmelden, weil auf dem in großen Teilen leer gefegten Arbeitsmarkt weniger Sanktionen des Arbeitgebers drohen. Manche vermuten eine höhere Präferenz für Freizeit nach der Pandemie.

Unabhängig von den Gründen hat nach Analyse des Kieler Instituts für Weltwirtschaft der höhere Krankenstand das Wachstum in den beiden vergangenen Jahren um jeweils etwa rund 1 Prozentpunkt gedrückt. Ohne die zusätzlichen Fehltage wäre die Wirtschaftsleistung im vergangenen Jahr rechnerisch nicht geschrumpft, sondern gewachsen.

Der hohe Krankenstand, aber mehr noch die im Trend sinkende Jahresarbeitszeit verdienen Aufmerksamkeit, weil die Erwerbsbevölkerung mit dem Renteneintritt der geburtenstarken Jahrgänge in den kommenden Jahren stark abnehmen wird. Das absehbar sinkende Arbeitsvolumen ist nach Analyse des Sachverständigenrats Wirtschaft wichtigster Grund für die auf mittlere Frist sehr mageren Wachstumsaussichten von 0,4 Prozent im Jahr. Ohne Mehrarbeit muss Deutschland sich darauf einstellen, dass die Wirtschaft im Quartalstrend kaum noch wachsen wird und jederzeit in eine Rezession stürzen kann.

Die politische Diskussion fokussiert zur Abhilfe auf mehr Erwerbstätigkeit von Frauen und auf ein späteres Renteneintrittsalter. Die Politik denkt auch an mehr Zuwanderung, um die Schrumpfung der Erwerbsbevölkerung zu mindern. Dem aber sind Grenzen gesetzt, weil der Wille der Bevölkerung zur Masseneinwanderung begrenzt ist.

Die dritte Option zur Linderung des Arbeitskräftemangels findet in der Debatte so gut wie keinen Widerhall: einfach wieder mehr Stunden in der Woche arbeiten – so wie es die Schweizer oder die Amerikaner tun, die viel mehr als die Deutschen arbeiten und ein weit höheres Durchschnittseinkommen erwirtschaften. Streiks und Umfragen belegen indes, dass die Deutschen nicht mehr arbeiten wollen.

Diesen Unwillen hegt und pflegt die Regierung, weil sie mit einer hohen Steuer- und Abgabenlast zusätzliche Einkommen durch Mehrarbeit ziemlich unattraktiv macht. Der besteuernde Staat erzieht die Deutschen zu Freizeitweltmeistern, während er als gestresster Verwalter notleidender Sozialkassen sich zur Bevölkerungspolitik berufen fühlt.

Mehr zum Thema

1/

BASF-Chef Brudermüller : „Mir fehlt der Kampfgeist in der Nation“

Chinas Massenproduktion : Wer soll das alles kaufen?

Investitionsschwäche : Deutschland – ein Standort in Not

Gezielte Einwanderung : Lindner schlägt einen Steuerrabatt für ausländische Fachkräfte vor

Kraftwerkstrategie : „Habeck plant mit einem unrealistischen Idealszenario“

Der Gedanke, in einer alternden Gesellschaft mehr Stunden je Woche oder mehr Jahre zu arbeiten, um den Lebensstandard zu sichern, ist ungewohnt in einer Gesellschaft, die seit Jahrzehnten an weniger Arbeit gewöhnt ist und seitens der Politik daran gewöhnt wurde. Produktivitätsgewinne durch neue Technik werden den Anpassungsdruck zum Teil, aber kaum zur Gänze ausgleichen können. Zumindest kann man sich darauf nicht verlassen.

In einer sich entwickelnden Wirtschaft kann eben kein Staat das Glücksversprechen ewig steigender Einkommen garantieren. Mit einiger Sicherheit kann nur jeder Einzelne sich auf höhere Einkommen verlassen, wenn er in die Hände spuckt und anpackt. Weniger arbeiten und zugleich über zu wenig Einkommen schimpfen ist dagegen die ökonomische Quadratur des Kreises.

QOSHE - Mehr Arbeit für die Freizeitweltmeister - Patrick Welter
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Mehr Arbeit für die Freizeitweltmeister

5 33
25.03.2024

Deutschland hat einen neuen Rekord erreicht. Mit Ausnahme des ersten Pandemiejahres 2020 haben die Deutschen seit 50 Jahren noch nie so wenig gearbeitet wie im vergangenen Jahr. Die durchschnittliche Jahresarbeitszeit der Erwerbstätigen betrug nur noch 1342 Stunden. Im Kreis der OECD-Staaten dürfte Deutschland – wie schon im vergangenen Jahrzehnt – wieder die rote Laterne einnehmen.

Diese Entwicklung ist auf der einen Seite durchaus positiv. Wer möchte nicht weniger arbeiten, wenn er es sich leisten kann? Das ist das gute Recht jedes Einzelnen. Doch für Deutschland als Ganzes stellt sich zunehmend die Frage, ob wir uns die geringe Jahresstundenzahl noch leisten können, wenn überall über Facharbeitermangel und fehlendes Ser­vicepersonal geklagt wird. Das ist die Kehrseite der Medaille.

Wie sehr der Ausfall von produktiver Arbeitszeit das Wachstum drückt, zeigte sich deutlich in den vergangenen beiden Jahren. In einer außerordentlichen Sonderentwicklung stieg der Krankenstand 2022 drastisch um durchschnittlich 3,8 Arbeitstage. Im vergangenen Jahr hat er weiter leicht auf 15,2 Tage zugelegt.

Die Ursache des hohen Krankenstands ist noch nicht endgültig geklärt. Ein oft genannter Grund ist, dass die........

© Frankfurter Allgemeine


Get it on Google Play