Boris Pistorius fängt vieles an. Praktisch im Wochentakt sortiert der SPD-Politiker die Organigramme einer Bundeswehr, die während der vergangenen Jahrzehnte von einer imposanten Streitmacht zur bewaffneten Behörde herabgewirtschaftet wurde. Nur ein verschwindend kleiner Teil der Armee blieb einsatztauglich und bewährte sich bei Auslandseinsätzen von Bosnien bis Mali. Oft genug dabei behindert, wenn nicht gefährdet durch Regierung und Parlament, die sich der Wirklichkeit verschlossen und etwa den Afghanistan-Kontingenten jahrelang schwere Waffen verweigerten.

Während daheim der SPD-Friedensforscher Rolf Mützenich über die moralischen Gefahren bewaffneter Drohnen dozierte, machten am Hindukusch die Taliban Jagd auch auf deutsche Konvois. Die Regierung, 16 Jahre dominiert von Kanzlerin Angela Merkel und ihren wechselnden Koalitionspartnern, kümmerten sich wenig um den Verfassungsauftrag: Der besagt, dass der Bund Streitkräfte zur Verteidigung aufzustellen habe.

Obwohl spätestens seit Russlands Überfall auf die Krim im Jahr 2014 klar war, dass diese Streitkräfte gebraucht werden, änderte sich nichts an diesem fatalen Kurs. Dann kam Olaf Scholz. Der begann seine Amtszeit als Kanzler mit einem Fehler, indem er am Vorabend der russischen Vollinvasion der Ukraine Christine Lambrecht zur Verteidigungsministerin ernannte und mehr als ein Jahr in diesem Amt beließ. Die Partei ging ihm da vor Staat und Volk.

Kurz nach Putins Angriff hielt Scholz eine vielgelobte Rede zur Zeitenwende. Doch seither hat er selbst wenig unternommen, um die Bundeswehr zu stärken. Die 100 Milliarden, die er zur Wiederertüchtigung versprochen hatte, blieben lange unberührt. Steigende Zinsen und ein gewaltiger Preisauftrieb bei Rüstungsgütern ließen das Geld ebenso dahinschmelzen wie immer größere zweckwidrige Ausgaben für laufende Betriebskosten und Sparbeiträge zum Haushalt. Etwa ein Viertel der Summe wird auf diese Weise verdampfen.

Besucht die Wehrbeauftragte die Truppe, trifft sie dort im dritten Kriegsjahr auf Soldaten mit neuer wetterfester Kleidung. Sie schaut aber weiterhin in leere Munitions- und Waffendepots. Die Bundeswehr hat zu wenig Personal, zu wenig Material und viel zu wenig Geld.

Pistorius aber kündigt unverdrossen immer neue historische Reformen oder historische Schritte an. Bei näherem Hinsehen erweisen sie sich als ziemlich windschiefe Luftschlösser. Diese Woche verabschiedete er im Blitzlichtgewitter einen Aufbaustab nach Litauen – der dort historischerweise eine deutsche Brigade etablieren soll. Der Bundeshaushalt weiß aber noch nichts davon, und woher die Panzer und Geschütze dieser Streitmacht kommen sollen, erklärte der mitreisende Heeresinspekteur Alfons Mais so: Die Bundeswehr werde sie „aus bestehenden Strukturen ausschwitzen“ müssen.

Bei dem geschichtlich bedeutenden Ereignis der Vorwoche hatte Pistorius eine Reform der Bundeswehr angekündigt und dann Minimalveränderung annonciert, welche die vollumfängliche Zustimmung der ministerialen Personalvertretung gefunden habe. Das spricht nicht gerade für Zumutungen an die Macht der Gewohnheiten. So war es auch anderswo: Im Ministerium selbst veranstaltete der Minister ein größeres Kästchengeschiebe, etablierte einen personalstarken Planungsstab à la Helmut Schmidt und schuf dabei mehr Unterabteilungen als zuvor – wo er doch eigentlich straffen und konzentrieren wollte.

Ähnlich geht es beim Beschaffungswesen zu. Pistorius entließ zwar die Chefin und machte deren Stellvertreterin zur Nachfolgerin, ansonsten aber blieb vieles beim Alten. Dass die Großbehörde in Koblenz mit mehr als 10.000 Stellen plötzlich überhaupt einige Dutzend Vorlagen pro Jahr ausschwitzt, gilt Pistorius schon wieder als geschichtsträchtiges Ereignis.

Wie die Opposition ausgerechnet hat, hat es das Beschaffungswesen trotzdem nicht einmal geschafft, das Geld auszugeben, das im regulären Etat zur Verfügung stand: Nur etwas mehr als zwei Drittel der 7,7 Milliarden wurden 2023 ausgegeben. Anstatt sich darüber aufzuregen, eilen Pistorius und Generalinspekteur Carsten Breuer schon wieder den nächsten Epochenwechseln entgegen: der Wiedereinführung der Wehrpflicht oder der Geburt einer neuen Teilstreitkraft für den Cyber- und Informationsraum.

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Bei allem wachsen die Zweifel, ob Kanzler Scholz und der SPD-Fraktionsvorsitzende Mützenich überhaupt ein Interesse am Erfolg ihres Ministers und etwaigen Konkurrenten haben, der beide an Beliebtheit weit überragt. Und so verweigern sie Pistorius das, was er am dringendsten braucht: Geld und die Erlaubnis, die Streitkräfte so zu organisieren, dass Verteidigungsbereitschaft und Kampfkraft die Maßstäbe sind und nicht die Zustimmung des Gesamtpersonalrats und mediales Brimborium für den kommenden Wahlkampf.

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Viele Anfänge, wenig Kampfkraft

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11.04.2024

Boris Pistorius fängt vieles an. Praktisch im Wochentakt sortiert der SPD-Politiker die Organigramme einer Bundeswehr, die während der vergangenen Jahrzehnte von einer imposanten Streitmacht zur bewaffneten Behörde herabgewirtschaftet wurde. Nur ein verschwindend kleiner Teil der Armee blieb einsatztauglich und bewährte sich bei Auslandseinsätzen von Bosnien bis Mali. Oft genug dabei behindert, wenn nicht gefährdet durch Regierung und Parlament, die sich der Wirklichkeit verschlossen und etwa den Afghanistan-Kontingenten jahrelang schwere Waffen verweigerten.

Während daheim der SPD-Friedensforscher Rolf Mützenich über die moralischen Gefahren bewaffneter Drohnen dozierte, machten am Hindukusch die Taliban Jagd auch auf deutsche Konvois. Die Regierung, 16 Jahre dominiert von Kanzlerin Angela Merkel und ihren wechselnden Koalitionspartnern, kümmerten sich wenig um den Verfassungsauftrag: Der besagt, dass der Bund Streitkräfte zur Verteidigung aufzustellen habe.

Obwohl spätestens seit Russlands Überfall auf die Krim im Jahr 2014 klar war, dass diese Streitkräfte gebraucht werden, änderte sich nichts an diesem fatalen Kurs. Dann kam Olaf Scholz. Der begann seine Amtszeit als Kanzler mit einem Fehler, indem........

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