Noch fehlt das Schlagwort. Nach der „Schmach von Córdoba“ 1978, der „Schande von Gijón“ 1982 vielleicht das „Desaster von Wien“? Aber der Begriff kann warten. In den Medien glauben viele längst erkannt zu haben, dass die katastrophalen Spiele der deutschen Nationalmannschaft gegen Österreich und zuvor gegen die Türkei nicht einfach nur sportliche, analytisch erklärbare Niederlagen waren, sondern für etwas Gewichtigeres stehen.

„Wenn noch jemand Zweifel daran gehabt haben sollte, dass Fußball ein Abbild der Gesellschaft ist, dann sollte dieser Zweifel seit gestern ausgeräumt sein“, dröhnte etwa „Der Spiegel“ nach dem Österreich-Spiel, weil die Abwehr so löchrig schien wie der Bundeshaushalt nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts.

Solche Analogien waren schon immer intellektuelle Kurzschlüsse. Eine flüchtige Oberflächenevidenz, die Brandt mit Netzer, Kohl mit Vogts und nun Scholz mit Flick/Nagelsmann zusammenführt – und schon an Merkel und Löw scheitern würde. Deutschland ist auch nicht in Qatar ausgeschieden, weil Nancy Faeser mit Regenbogenbinde auf der Tribüne saß.

Und man spielt nicht schlecht, weil Rudi Völler dem rechtspopulistischen Onlinemedium „Nius. Die Stimme der Mehrheit“, wo Julian Reichelt sich austoben darf, jetzt ein halbstündiges Interview gegeben hat. Dort sagt er, ausgerechnet zu Waldemar Hartmann: „Unsere deutschen Farben sollten einfach wieder im Vordergrund stehen.“ Was, wie „Nius“ holprig folgert, ein Kommentar „zur Fußball-Lage der Nation – und eben auch zur wirklichen Lage der Nation“ sei.

Der Ursprung des deutschen Trauerspiels im Fußball liegt nicht in der Politik. Wer ihm seriös nachgehen will, käme allenfalls auf die Verbandspolitik des DFB, die für Struktur, Organisation, Ausbildungsschwerpunkte verantwortlich ist. Oder zu der Frage, was eine Mannschaft erreichen kann, in der ein fraglos sehr guter, aber sich notorisch selbst überschätzender Spieler wie Joshua Kimmich sich ohne Widerspruch zum Anführer stilisiert? Vielleicht käme man aber auch einfach darauf, dass es in jeder traditionellen Fußballnation Entwicklungszyklen gibt, goldene Zeiten und dürre Jahre. Da reichte ein Blick nach Brasilien. Oder in die Niederlande.

Das zentrale Problem ist eine krasse kognitive Dissonanz in der öffentlichen Wahrnehmung der Nationalmannschaft. Die beliebte rhetorische Figur vom Potential, das die Mannschaft nicht „abruft“, wie es immer wieder so schön heißt, will einfach nicht verschwinden – obwohl das Geschehen auf dem Platz nicht erst seit den symbolisch überfrachteten Spielen gegen die Türkei und Österreich Grund genug dafür böte.

Denn wie lange ist ein Potential, das nie aktualisiert wird, noch ein Potential? Ist das Festhalten daran nicht vor allem Ausdruck einer Art Realitätsverweigerung, ausgelöst von unerträglicher Enttäuschung? Da wird eine unzerstörbare Substanz einfach vorausgesetzt: die Stärke des deutschen Fußballs, als Potential schlummernd wie Barbarossa im Kyffhäuser.

Wenn dann zu Wachstumskrise, Haushaltskrise, Regierungskrise, von der krisenhaften Weltlage ganz zu schweigen, noch die Fußballkrise kommt, wird das in der kollektiven Imagination zur allgemeinen Kränkung. Alles verschwimmt zu dem diffusen Gefühl, um die Bedeutung und Großartigkeit betrogen worden zu sein, die man sich selber zuspricht. Ressentiment ist da nie weit.

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Es wäre in dieser Situation jedoch auch eine Möglichkeit, lässig zu bleiben. Oder ein bisschen Demut zu üben. Es könnte ja immer noch schlimmer kommen. Italien etwa hat die letzten beiden Fußballweltmeisterschaften verpasst und dann noch Meloni gewählt. Statt Größe wie ein Naturrecht einzuklagen, wäre es dringend Zeit zu fragen, warum sie verblichen ist.

QOSHE - Die große Kränkung - Peter Körte
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Die große Kränkung

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24.11.2023

Noch fehlt das Schlagwort. Nach der „Schmach von Córdoba“ 1978, der „Schande von Gijón“ 1982 vielleicht das „Desaster von Wien“? Aber der Begriff kann warten. In den Medien glauben viele längst erkannt zu haben, dass die katastrophalen Spiele der deutschen Nationalmannschaft gegen Österreich und zuvor gegen die Türkei nicht einfach nur sportliche, analytisch erklärbare Niederlagen waren, sondern für etwas Gewichtigeres stehen.

„Wenn noch jemand Zweifel daran gehabt haben sollte, dass Fußball ein Abbild der Gesellschaft ist, dann sollte dieser Zweifel seit gestern ausgeräumt sein“, dröhnte etwa „Der Spiegel“ nach dem Österreich-Spiel, weil die Abwehr so löchrig schien wie der Bundeshaushalt nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts.

Solche Analogien waren schon immer intellektuelle Kurzschlüsse. Eine flüchtige Oberflächenevidenz, die Brandt mit Netzer, Kohl mit Vogts und nun Scholz mit Flick/Nagelsmann zusammenführt – und schon an Merkel und Löw........

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