In vielen russischen Städten gibt es Denkmäler für die Opfer der politischen Verfolgung in der Sowjetunion. Meist stehen sie nicht auf zentralen Plätzen, und in der Regel sind sie auch nicht sehr groß. Daran lässt sich der Stellenwert ablesen, den die Verbrechen der kommunistischen Diktatur in großen Teilen der russischen Gesellschaft haben: Man leugnet sie nicht, hält sie aber nicht für das zentrale Kennzeichen der Sowjetunion. In dem Vierteljahrhundert der Herrschaft Wladimir Putins wurde das zur offiziellen Doktrin. Die Millionen ermordeten, in den Lagern zu Tode geschundenen und in den Klauen der Geheimdienste gebrochenen Menschen wurden zu unbedeutenden Nebenaspekten einer Geschichte erklärt, die angeblich von Russlands Ruhm und Stärke zeugt.

In den vergangenen Tagen sind die Denkmäler für die Opfer der Sowjetmacht vielerorts zu spontanen Gedenkstätten für den von Putins Regime getöteten Alexej Nawalnyj geworden. So schließt sich symbolisch ein Kreis. Wladimir Putin führt Russland zurück in Richtung der Düsternis seiner Vergangenheit. Noch ist es nicht bei Stalins Terror angekommen. Aber Putin legt immer mehr Hemmungen bei der Anwendung von Gewalt und Willkür ab. Das war schon bei der Abrechnung mit dem Söldnerführer Jewgenij Prigoschin voriges Jahr zu sehen. Er wurde nach seinem bewaffneten Aufruhr nicht vor Gericht gestellt, sondern durch einen Anschlag auf sein Flugzeug getötet. Prigoschins Tod ist eine Zäsur, weil der Kreml erstmals ein dem ganzen Land bekanntes Mitglied der Elite gewaltsam ausgeschaltet hat.

Die Tötung Alexej Nawalnyjs dagegen reiht sich ein in eine lange Serie von Morden an Regimegegnern; schon im Sommer 2020 hatte der Kreml mit dem Nervengift Nowi­tschok einen Anschlag auf sein Leben verübt. Dennoch ist Nawalnyjs Tod ein viel tieferer Einschnitt für Russland als der Prigoschins. Der Gründer der Wagner-Truppe ist einem der vielen Machtkämpfe im Umfeld des Kremls zum Opfer gefallen, in denen es um Einfluss und Pfründe innerhalb des bestehenden Systems geht. Prigoschins Tötung war ein Signal an die Profiteure des Regimes, dass die Spielregeln verschärft wurden.

Alexej Nawalnyj dagegen stand für die Möglichkeit eines ganz anderen Russlands. Er wollte einen gewaltfreien Machtwechsel, strebte die Errichtung eines demokratischen Rechtsstaats an und trat – nach nationalistischen Irrwegen in früheren Jahren – angesichts des Kriegs gegen die Ukraine für die Abkehr von dem Selbstverständnis Russlands als Imperium ein. Mit Nawalnyj wurde die beste Chance auf ein Russland getötet, das sich selbst von der Gewalt jener bösen Dämonen seiner Geschichte befreit, die Wladimir Putin verherrlicht. Das wäre ein Russland geworden, das für seine Nachbarn keine tödliche Gefahr mehr ist.

Schon bisher war die Wahrscheinlichkeit groß, dass Russland am Ende von Putins Herrschaft in einem blutigen Chaos versinken wird – mit all den Gefahren, die das bei einer Atommacht für den Rest der Welt mit sich bringt. Nun ist sie noch weiter gewachsen. In der Elite eines Regimes, das Gewalt zum Prinzip gemacht hat, gibt es genug Akteure, denen die Anwendung von Gewalt in Nachfolgekämpfen zuzutrauen ist. Und nach Nawalnyjs Tod ist niemand mehr zu erkennen, der in Russland eine gewaltfreie Massenbewegung anführen könnte. Dass er eine Lücke hinterlässt, die derzeit keiner füllen kann, liegt nicht nur an seinem Charisma und seiner Unbeugsamkeit. Seine Bekanntheit und seine Autorität hatte sich Nawalnyj jahrelang hart erarbeitet. Auch jemand seines Formats könnte das unter den heutigen Bedingungen in Russland nicht mehr schaffen; das Regime ist dafür zu repressiv und zu brutal geworden.

Niemand kann sagen, ob Nawalnyj und die von ihm geschaffene demokratische Bewegung wirklich stark genug gewesen wären, in einer Übergangsphase zu einem Machtfaktor zu werden. Und ob er ebenso viel Begabung für die Regierungsarbeit wie für die Opposition gehabt hätte, wird man nun nicht mehr erfahren. Aber er hatte eine klare Vorstellung von einem „wunderbaren Russland der Zukunft“ (so eine seiner Losungen). Es sollte ein Staat sein, der sich auf den Rechten und Freiheiten seiner Bürger gründet. Das unterschied ihn fundamental von Putin.

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Der Machthaber ist besessen von der Vergangenheit. Er phantasiert über eine ruhmreiche tausendjährige Geschichte Russlands, dessen Größe sich an der Macht seiner Herrscher bemisst; er wird getrieben vom Verlangen nach Revanche für eingebildete Erniedrigungen. Und er begnügt sich nicht damit, zu siegen: Putin will seine Gegner vernichten. Was das für Russland bedeutet, hat er an Nawalnyj demonstriert, dessen Leben ganz in seiner Hand lag; was das für Länder bedeutet, auf die er aus der Geschichte Ansprüche ableitet oder die sich ihm nur in den Weg stellen, ist jeden Tag in der Ukraine zu sehen.

QOSHE - Die gemordete Chance auf ein anderes Russland - Reinhard Veser
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Die gemordete Chance auf ein anderes Russland

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19.02.2024

In vielen russischen Städten gibt es Denkmäler für die Opfer der politischen Verfolgung in der Sowjetunion. Meist stehen sie nicht auf zentralen Plätzen, und in der Regel sind sie auch nicht sehr groß. Daran lässt sich der Stellenwert ablesen, den die Verbrechen der kommunistischen Diktatur in großen Teilen der russischen Gesellschaft haben: Man leugnet sie nicht, hält sie aber nicht für das zentrale Kennzeichen der Sowjetunion. In dem Vierteljahrhundert der Herrschaft Wladimir Putins wurde das zur offiziellen Doktrin. Die Millionen ermordeten, in den Lagern zu Tode geschundenen und in den Klauen der Geheimdienste gebrochenen Menschen wurden zu unbedeutenden Nebenaspekten einer Geschichte erklärt, die angeblich von Russlands Ruhm und Stärke zeugt.

In den vergangenen Tagen sind die Denkmäler für die Opfer der Sowjetmacht vielerorts zu spontanen Gedenkstätten für den von Putins Regime getöteten Alexej Nawalnyj geworden. So schließt sich symbolisch ein Kreis. Wladimir Putin führt Russland zurück in Richtung der Düsternis seiner Vergangenheit. Noch ist es nicht bei Stalins Terror angekommen. Aber Putin legt immer mehr Hemmungen bei der Anwendung von Gewalt und Willkür ab. Das war schon bei der Abrechnung mit dem Söldnerführer Jewgenij Prigoschin voriges Jahr........

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