Polens Präsident Andrzej Duda wirft der neuen Regierung „Terror“ vor – einen „Terror der Rechtsstaatlichkeit“. Ihre Politik seit ihrer Vereidigung Mitte Dezember stellt er als Serie von Gesetzesbrüchen dar. Aus der Sicht der Koalition von Ministerpräsident Donald Tusk ist genau das Gegenteil richtig: Sie bezeichnet die Entscheidungen, deretwegen der Präsident Polen in die Gesetzlosigkeit abgleiten sieht, als Schritte zur Wiederherstellung des Rechtsstaates nach dessen Demontage durch die rechtspopulistische PiS, zu deren Lager Duda gehört.

Das sind nicht nur rhetorische Scharmützel. Ein Vierteljahr nach der Niederlage der PiS in der Parlamentswahl rutscht Polen in eine Verfassungskrise, die sich zu einer Staatskrise auswachsen kann. An immer mehr Fronten liefern sich Präsident und Regierung Auseinandersetzungen darüber, welche Gesetze anzuwenden sind und welche nicht, welche Gerichtsentscheidungen anzuerkennen sind und welche nicht.

Das setzt sich in der Justiz fort: So haben zwei Kammern des Obersten Gerichts in derselben politisch brisanten Angelegenheit gegensätzliche Urteile gefällt und einander gegenseitig das Recht abgesprochen, in der Sache zu entscheiden; in der Staatsanwaltschaft erteilen zwei Männer Anweisungen, die beanspruchen, ihr rechtmäßiger Chef zu sein – ein PiS-Mann und einer, den die neue Regierung an dessen Stelle gesetzt hat.

Die Gründe für diese Entwicklung liegen in der Regierungszeit der PiS und in ihrer Weigerung, den Verlust der Macht zu akzeptieren. In den vergangenen acht Jahren hat die PiS Justiz, öffentliche Medien, Staatsunternehmen und öffentlichen Dienst so umgebaut, dass sie im Dienst der Partei standen. Dabei hat sie gegen die Verfassung verstoßen, Gesetze gebeugt und Urteile polnischer und europäischer Gerichte ignoriert. Unterstützt wurde sie darin von Präsident Duda und dem Verfassungsgericht, das die PiS zu Beginn ihrer Herrschaft unter ihre Kontrolle gebracht hat.

Die Regierungsgewalt hat die PiS abgegeben. Angesichts der Mehr­heits­­ver­hältnisse nach der Wahl im Oktober gab es keine auch nur annähernd legal aussehende Möglichkeit, das zu verhindern. Aber die PiS verteidigt verbissen ihre Bastionen in den staatlichen Institutionen, allen voran in der Justiz, die damit das zentrale Schlachtfeld der polnischen Politik bleibt. Wenn das neue Regierungsbündnis sein Wahlversprechen verwirklichen will, die Justiz zu entpolitisieren und ihre Unabhängigkeit wiederherzustellen (was auch Vor­aussetzung für die Auszahlung der Milliarden aus dem EU-Corona-Wiederaufbaufonds und damit für die Verwirklichung vieler Ankündigungen ist), muss es zahlreiche von der PiS beschlossene Gesetze ändern. Aber dem stehen zwei Hindernisse entgegen: der Präsident und das Verfassungsgericht. Beide handeln weiter ganz auf der Parteilinie der PiS, die offenbar bereit ist, im Kampf um die Macht jenen polnischen Staat zu destabilisieren, dessen Stärke angeblich ihr höchstes Ziel ist.

Duda ist noch bis Sommer 2025 im Amt, im Verfassungsgericht wird mindestens bis 2027 eine Mehrheit PiS-getreuer Richter bestehen. Die Mehrheit der neuen Regierung im Parlament ist nicht groß genug, um ein Veto des Präsidenten zu überstimmen. Bleibt Duda auf Konfrontationskurs, ist eine Dauerblockade nicht zu vermeiden. Beim Verfassungsgericht hat die Regierung eine Chance, es zu umgehen, denn es bestehen schwere Zweifel an seiner Legitimität in der derzeitigen Zusammensetzung. Diese werden durch Urteile europäischer Gerichte bestärkt. Unter Berufung darauf hat die Regierung schon zwei Sprüche des Verfassungsgerichts im Streit über die Wie­der­her­stel­lung der öffentlich-rechtlichen Me­dien ignoriert. In anderen Fällen hat sie Entscheidungen getroffen, indem sie die Gültigkeit von Regeln aus der PiS-Zeit verneint hat.

Dafür gab es in jedem Fall Begründungen, die von Koryphäen des polnischen Verfassungsrechts gestützt wurden. Dennoch begibt sich die Regierung damit in eine Grauzone, in der ihre Beteuerung zu verschwimmen beginnt, sie werde im Gegensatz zur PiS nur mit eindeutig rechtsstaatlichen Mitteln handeln. Aber im Moment hat sie gar keine andere Wahl, als auf diesem Weg voranzuschreiten. Täte sie das nicht, käme das einer Kapitulation vor der PiS gleich – und damit einem Verrat an den Wählern der Koalitionsparteien. Alle anderen Vorhaben, für die sie gewählt wurden, stehen unter dem Vorbehalt, dass sie diesen Kampf gewinnen.

Mehr zum Thema

1/

Machtkampf in Polen : Duda gegen den „Terror der Rechtsstaatlichkeit“

Machtkampf in Polen : Tusk und Duda ringen um die Staatsanwaltschaft

Wer kontrolliert den Rundfunk? : Der Krimi um das polnische Fernsehen

Die Wahlniederlage der PiS ist von vielen in Europa als Zeichen der Hoffnung verstanden worden, dass es möglich ist, autoritäre und antieuropäische Kräfte zu besiegen. Die politische Schlacht, die in Polen nun ausgetragen wird, zeigt, wie schwierig es ist, eine einmal beschädigte Demokratie wiederherzustellen.

QOSHE - Einem EU-Land droht die Staatskrise - Reinhard Veser
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Einem EU-Land droht die Staatskrise

4 0
19.01.2024

Polens Präsident Andrzej Duda wirft der neuen Regierung „Terror“ vor – einen „Terror der Rechtsstaatlichkeit“. Ihre Politik seit ihrer Vereidigung Mitte Dezember stellt er als Serie von Gesetzesbrüchen dar. Aus der Sicht der Koalition von Ministerpräsident Donald Tusk ist genau das Gegenteil richtig: Sie bezeichnet die Entscheidungen, deretwegen der Präsident Polen in die Gesetzlosigkeit abgleiten sieht, als Schritte zur Wiederherstellung des Rechtsstaates nach dessen Demontage durch die rechtspopulistische PiS, zu deren Lager Duda gehört.

Das sind nicht nur rhetorische Scharmützel. Ein Vierteljahr nach der Niederlage der PiS in der Parlamentswahl rutscht Polen in eine Verfassungskrise, die sich zu einer Staatskrise auswachsen kann. An immer mehr Fronten liefern sich Präsident und Regierung Auseinandersetzungen darüber, welche Gesetze anzuwenden sind und welche nicht, welche Gerichtsentscheidungen anzuerkennen sind und welche nicht.

Das setzt sich in der Justiz fort: So haben zwei Kammern des Obersten Gerichts in derselben politisch brisanten Angelegenheit gegensätzliche Urteile gefällt und einander gegenseitig das Recht abgesprochen, in der Sache zu entscheiden; in der Staatsanwaltschaft erteilen zwei........

© Frankfurter Allgemeine


Get it on Google Play