Wenn es derzeit so schwer ist, einen Kulturpreis ohne Beteiligung des Nahostkonflikts zu vergeben, dann liegt das daran, dass die Kulturszene den Nahen Osten anders als die anderen weltpolitischen Konfliktherde zur Schicksalsfrage gemacht hat. Der Zypern-Streit oder der Uiguren-Komplex hat noch kein Preiskomitee gespalten. Im Unterschied dazu gibt es kaum einen Israel-Boykott-Aufruf ohne literarische Hochprominenz.

Die russisch-amerikanische Publizistin Masha Gessen, die eigentlich für ihre scharfen Analysen des russischen Imperialismus und der amerikanischen Rechten bekannt ist und dafür den Hannah-Arendt-Preis bekommen soll, hatte sich kürzlich in einem Essay für den „New Yorker“ zu Wort gemeldet und dort den Gazastreifen mit einem jüdischen Ghetto in den NS-besetzten europäischen Ostgebieten gleichgesetzt, was einerseits bedeutete, dass sie Israel unterstellte, alle Gaza-Bewohner umbringen zu wollen und zweitens von der Realität so weit entfernt ist, dass man es nicht ernst nehmen kann. Die Raketen, die von jüdischen Ghettos aus ins NS-Deutschland flogen, hat außer Gessen noch niemand gesehen, und dass in den Ghettos eine Vernichtungsideologie um sich griff, die weit über eine Bande von Terroristen aus ihre Kreise zog, lässt sich auch nicht behaupten.

Mehr zum Thema

1/

Hannah-Arendt-Preis : Böll-Stiftung zieht sich nach Kritik an Gessen zurück

Kritik an ihrem Buch : Schriftstellerin Adania Shibli mit Verbotsantrag gegen „taz“ gescheitert

Sharon Dodua Otoo : Bochum stoppt Vergabe des Peter-Weiss-Preises

Nun erkennt Gessen gewisse Unterschiede in dem Essay zwar an, beschwichtigt sie aber damit, dass NS-Deutschland und Israel, über alle Unterschiede hinweg, ein gemeinsames Sicherheitsinteresse geteilt hätten. Dem wäre hinzuzufügen, dass es sich einmal um eine eingebildete Judenverschwörung und das andere Mal um die reale Hamas-Gefahr handelt. Doch die Hamas-Ideologie und das Massaker vom 7. Oktober sind Gessen keine eigene Beschreibung wert. Sie will das Dogma brechen, dass Israel nicht Opfer und Täter zugleich sein könne, das entlastet sie aber nicht vom maßvollen Vergleich.

Der Bremer Senat und die Heinrich-Böll-Stiftung haben nun entschieden, sich aus der für den 15. Dezember angesetzten Preisverleihung zurückzuziehen, weil sie Gessens Äußerungen unerträglich finden. Der Trägerverein des Arendt-Preises will die Auszeichnung trotzdem übergeben, ohne den von der Stadt zur Verfügung gestellten Festakt. Er beruft sich auf die Streitkultur, zu der für ihn offenbar auch verfehlte NS-Vergleiche gehören. Interessant sind die Reaktionen internationaler Intellektueller, die in der Absage wieder einmal eine Spezialmarotte der Deutschen mit ihrem ewigen Holocaust-Komplex zu sehen scheinen. Der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze ruft auf der Plattform X, ehemals Twitter, zu einer kollektiven Antwort an die Böll-Stiftung auf, über die üblichen Kanäle. Hier verfügt man offenbar über eine gut geölte Maschinerie. Man kann bedauern, dass Preisvergaben nun so häufig unter politischem Vorbehalt stehen. Dass dämo­nisierende (und nur solche) Kritik an Israel vom Kulturbetrieb nicht einfach hingenommen wird, weil sie ein Ritual bedient, ist dagegen eine erfreuliche Entwicklung.

QOSHE - Folgen eines maßlosen Vergleichs - Thomas Thiel
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Folgen eines maßlosen Vergleichs

12 1
14.12.2023

Wenn es derzeit so schwer ist, einen Kulturpreis ohne Beteiligung des Nahostkonflikts zu vergeben, dann liegt das daran, dass die Kulturszene den Nahen Osten anders als die anderen weltpolitischen Konfliktherde zur Schicksalsfrage gemacht hat. Der Zypern-Streit oder der Uiguren-Komplex hat noch kein Preiskomitee gespalten. Im Unterschied dazu gibt es kaum einen Israel-Boykott-Aufruf ohne literarische Hochprominenz.

Die russisch-amerikanische Publizistin Masha Gessen, die eigentlich für ihre scharfen Analysen des russischen Imperialismus und der amerikanischen Rechten bekannt ist und dafür den Hannah-Arendt-Preis bekommen soll, hatte sich kürzlich in einem Essay für den „New Yorker“ zu Wort gemeldet und dort den Gazastreifen mit einem jüdischen Ghetto in den NS-besetzten europäischen Ostgebieten........

© Frankfurter Allgemeine


Get it on Google Play