Inzwischen könnte nichts nor­maler sein: Am Straßenrand, auf Mäuerchen oder Bänken, im Gras, überall und zu jeder Jahreszeit liegen Bücher, die keiner haben will. Manchmal sind sie von alten Schuhen, Gläsern, Töpfen und Regaltrümmern umgeben – Umzugsgut, das in der neuen Wohnung keinen Platz findet. Meist aber liegen sie da für sich. Sie füllen Kartons oder ragen aus halb geöffneten Plastiktüten, andere sind ohne jeden Schutz Wind und Wetter ausgesetzt; das eine Konvolut liegt achtlos durcheinander, beim nächsten meint man noch die Spuren einer ordnenden Hand wahrzunehmen, die das, was einst angeschafft und geschätzt wurde, ein letztes Mal mit Respekt behandelt.

Man trennt sich, weil man muss oder weil der Zauber verflogen ist und Isabell Allende oder Hera Lind ihren Zenit in der Publikumsgunst längst überschritten haben und mit ihnen tausend andere, aber man tut nicht so, als wäre nie etwas gewesen – manche dieser Kisten am Wegrand sind aus transparentem Plastik und tragen einen Deckel, um die Witterung abzuhalten. Das aber sind die Ausnahmen. Falls Eigentum wirklich verpflichtet, dann gilt das jedenfalls nicht für Bücher, schon gar nicht für geerbte, die dann beim Umbau von Häusern in den Bauschuttcontainern landen. Wer nicht gar so hartgesotten ist, wählt stattdessen die Bücherschränke im öffentlichen Raum und macht damit vielleicht einen jener mit großen Taschen bewaffneten Radfahrer glücklich, die regelmäßig diese Schränke abklappern, auf der Suche nach Titeln, aus denen sich etwas machen lässt.

So hat es sich seit Jahren eingespielt, und das Signal, das von der allseitigen Verfügbarkeit von ungewollten Büchern ausgeht, könnte nicht klarer sein. Im Detail ­allerdings verschiebt es sich: Waren es früher Kinderbücher, denen man entwachsen war, in die Jahre gekommene Reiseführer, die niemandem mehr weiterhelfen könnten, Ratgeber, Koch- und Backbücher, die mit längst vergangenen Gewohnheiten zu tun hatten, trifft es inzwischen auch mehrbändige Fachliteratur, die einmal sehr teuer angeschafft worden ist.

Mag sein, dass Grundlagenwerke zur Elektrotechnik aus den Siebzigerjahren inzwischen derart veraltet sind, dass Novizen dieses Fachs damit rein gar nichts mehr anfangen können. Aber wer macht sich die Mühe, sie dennoch an den Straßenrand zu legen? Welchen Leser stellt er sich vor, der im Vorbeilaufen anhält und just diese fünf Bände an sich nimmt, um sie in der ersten freien Minute durchzugehen? Oder die „Grundzüge der Betriebswirtschaftslehre“, 10. Auflage, während mittlerweile die 16. Auflage für wenige Euro zu haben ist?

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Am Straßenrand

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01.12.2023

Inzwischen könnte nichts nor­maler sein: Am Straßenrand, auf Mäuerchen oder Bänken, im Gras, überall und zu jeder Jahreszeit liegen Bücher, die keiner haben will. Manchmal sind sie von alten Schuhen, Gläsern, Töpfen und Regaltrümmern umgeben – Umzugsgut, das in der neuen Wohnung keinen Platz findet. Meist aber liegen sie da für sich. Sie füllen Kartons oder ragen aus halb geöffneten Plastiktüten, andere sind ohne jeden Schutz Wind und Wetter ausgesetzt; das eine Konvolut liegt achtlos durcheinander, beim nächsten meint man noch die Spuren einer ordnenden Hand wahrzunehmen, die das, was einst angeschafft und geschätzt wurde, ein letztes Mal mit Respekt behandelt.

Man trennt sich, weil man muss oder weil der Zauber verflogen ist und Isabell Allende oder Hera Lind ihren Zenit in........

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