Vor etwa fünfzig Jahren, die Zeitschrift „Bargfelder Bote“ nennt als Datum „April/Mai 1974“, erholte sich der Autor Arno Schmidt gerade von einem Herz­infarkt, als ihn ein „Anfall von Mis­anthropie“ ereilte und er seine Vorarbeiten – die berühmten Zettel – zu seinem 1972 erschienenen Roman „Die Schule der Atheisten“ den Flammen übergab.

Warum? Natürlich spricht nichts dagegen, sich von Papieren zu trennen, die sich im Lauf der Jahre wie von selbst anhäufen, auch mit Blick auf die Nachwelt, die sich sonst irgendwann mit der Frage beschäftigen muss, ob jahrzehntealte ­bezahlte Rechnungen tatsächlich noch aufgehoben werden müssen, von Prospekten, Zeitschriften und dergleichen ganz zu schweigen. Auf der anderen Seite wusste Schmidt als Biograph einer Reihe von Autoren und allem voran als Pionier der biogra­phischen Erforschung von Friedrich de la Motte Fouqué um den Wert solcher Lebenszeugnisse, deren Versprechen auf Erkenntnisgewinn oft erst mit wachsendem Abstand zu den Ereignissen deutlich wird.

In seinem Kurzroman „Tina oder über die Unsterblichkeit“ schwelgt er 1956 in der Phantasie, wie jedes noch so kleine schriftliche Zeugnis unserer Existenz den Moment hinauszögert, bis wir nach unserem Tod endgültig vergessen sind – wer, wie Schmidts Protagonist, der eigenen Unsterblichkeit herzlich müde ist, wird freilich ein anderes Verhältnis zu solchen Relikten haben als ihre Biographen. Und so findet sich in der Unterwelt, in der all diese Opfer ihres Ruhms fortleben müssen, ein Standbild mit einem herrischen Togaträger, der einem Sklaven das Anzünden eines Bücherbergs gebietet; es ist „jener nie genug zu ver­ehrende Omar, der seinerzeit die Bi­bliothek von Alexandria verbrannte“.

Glücklicherweise hielt sich Schmidt mit Blick auf die eigene literarische Laufbahn nicht an die Erfahrungen seines Jenseitsreisenden in „Tina“. So sind etwa die Zettelkästen seiner anderen späten Großromane auf uns gekommen und erlauben einen reizvollen Blick auf den Produktionsprozess zwischen Notiz und Niederschrift. Was bewog ihn im Frühjahr 1974 dann doch zum Autodafé? Von Feuersbrünsten war Schmidts Wohnort Bargfeld, ein Dorf mit vierzig Häusern, in jenen Jahren besonders betroffen – es brannte dort „zehn Mal in sechs Jahren“, schreibt Schmidts Biograph Sven Hanuschek. War der „Anfall von Misanthropie“ der Erwartung geschuldet, sowieso bald alle Papiere in Schutt und Asche zu sehen?

Falls es so war, konnte Schmidt diese Angst bald besser bekämpfen, als sich ihr ­fatalistisch zu ergeben. Er ließ sich neben dem Haus ein feuerfestes Archivgebäude bauen.

QOSHE - Warum verbrannte Arno Schmidt seinen Zettelkasten? - Tilman Spreckelsen
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Warum verbrannte Arno Schmidt seinen Zettelkasten?

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17.04.2024

Vor etwa fünfzig Jahren, die Zeitschrift „Bargfelder Bote“ nennt als Datum „April/Mai 1974“, erholte sich der Autor Arno Schmidt gerade von einem Herz­infarkt, als ihn ein „Anfall von Mis­anthropie“ ereilte und er seine Vorarbeiten – die berühmten Zettel – zu seinem 1972 erschienenen Roman „Die Schule der Atheisten“ den Flammen übergab.

Warum? Natürlich spricht nichts dagegen, sich von Papieren zu trennen, die sich im Lauf der Jahre wie von selbst anhäufen, auch mit Blick auf die Nachwelt, die sich sonst irgendwann mit der Frage beschäftigen muss, ob jahrzehntealte ­bezahlte Rechnungen tatsächlich noch aufgehoben........

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