Ein Mann schreibt einer Zufallsbekanntschaft in Berlin. Er möchte sie wiedersehen. Sie macht ihm keine großen Hoffnungen, er bleibt hartnäckig, schließlich verlieben sie sich ineinander, obwohl beide eigentlich nichts Ernstes miteinander anfangen wollten. Sie gehen ins Restaurant und ins Kino, sie mieten für ein Wochenende ein Zelt auf einem Campingplatz.

Es wird dramatisch, als der Mann mit einer anderen Frau nach Venedig fliegt und seine Freundin vor lauter Kummer ins Wasser gehen will, aber gerade noch rechtzeitig bemerkt, dass sie schwanger ist. Am Ende wird geheiratet.

Im Roman „ich an dich“ von Dinah Nelken, der sich hunderttausendfach verkaufte, wird diese Liebesgeschichte in Briefen erzählt, aber auch in Relikten aus der Zeit des Kennenlernens: Eingeklebt in das fadengebundene Buch sind Notizzettel, Fotos, Telegramme, Flugscheine, Quittungen, Restaurantrechnungen und Kinokarten (Esplanade-Kino, Parkett, Reihe 18), ganz so, als ob die Autorin ein Album mit ihren Lesern teilte, in dem die Romanheldin alles aufbewahrt, was sie später an die sich anbahnende Ehe erinnern soll.

Nelkens Buch erschien vor 85 Jahren, und es fragt sich, welche Gestalt es heute hätte. Nicht nur, weil sich im gegenwärtigen Berlin andere Formen des Kennenlernens etabliert haben oder weil ein derart aufwendig gestaltetes Buch inzwischen wahrscheinlich unbezahlbar wäre.

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Als die Bahn kürzlich das Ergebnis einer Umfrage veröffentlichte, wonach zwei Drittel ihrer Kunden im Bahnhof nicht auf Schalter oder Automaten verzichten wollten, die Karten nach wie vor ausdrucken, verkündete sie zugleich, dass 84 Prozent der Reisenden ihre Fahrkarten sowieso online buchen. Wir sind zwar Nostalgiker, heißt das, die aber den bequemen Weg gehen, auch wenn es hinterher im Album nichts einzukleben gibt, zumal man sich an die meisten Bahnreisen sowieso gerade nicht gern erinnert.

Die Liebenden in Dinah Nelkens Roman hätten sich einiges erspart, wenn sie verräterische Restaurantbelege nicht auf Papier mit sich getragen hätten, sodass der andere sie finden konnte. Dass sie aber ohne solche klärenden Krisen beieinander geblieben wären, ist nicht sehr wahrscheinlich.

QOSHE - Was alles in unserem Handy steht - Tilman Spreckelsen
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Was alles in unserem Handy steht

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29.01.2024

Ein Mann schreibt einer Zufallsbekanntschaft in Berlin. Er möchte sie wiedersehen. Sie macht ihm keine großen Hoffnungen, er bleibt hartnäckig, schließlich verlieben sie sich ineinander, obwohl beide eigentlich nichts Ernstes miteinander anfangen wollten. Sie gehen ins Restaurant und ins Kino, sie mieten für ein Wochenende ein Zelt auf einem Campingplatz.

Es wird dramatisch, als der Mann mit einer anderen Frau nach Venedig fliegt und seine Freundin vor lauter Kummer ins Wasser gehen will, aber gerade noch rechtzeitig bemerkt, dass sie schwanger ist. Am Ende wird geheiratet.

Im Roman „ich an dich“ von Dinah Nelken, der sich hunderttausendfach verkaufte, wird diese Liebesgeschichte in Briefen erzählt,........

© Frankfurter Allgemeine


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