Der stellvertretende bayerische Ministerpräsident Hubert Aiwanger hat behauptet, es gebe „Leute im System“, „die wollen, dass die kleinen Dorfwirtshäuser schließen, weil sie sagen, ich will nicht mehr, dass da ein Stammtisch beieinandersitzt, der miteinander politisiert, sondern ich will dem sagen, was er zu denken hat über andere Kanäle“. Das ist ziemlicher Käse.

Wo Aiwanger aber einen Punkt hat: dass der Stammtisch als Ort der politischen Willensbildung nicht den besten Ruf genießt. Das zeigt der Begriff „Stammtisch-Parole“, der nicht weit entfernt ist von „Scheißhaus-Parole“, um es stammtischgerecht zu formulieren. Was auch stimmt: dass die Stammtischkultur auf dem Rückzug ist. Die Gründe sind aber weniger bei „Leuten im System“ zu finden als in gesellschaftlichen Entwicklungen. Für die mögen die Gegner Aiwangers (Grüne, SPD etc.) eher verantwortlich sein als CSU und Freie Wähler – aber nicht nur.

Der typische Stammtisch kam früher am Sonntag nach der Kirche zusammen. Das Problem fängt schon damit an, dass heute kaum noch wer in die Kirche geht. Während die Männer dann von halb elf bis zwölf beieinander saßen, hat die Frau daheim das Essen gekocht. Nicht nur, dass sich eine reine Männerrunde schlecht mit heutigen Diversitykonzepten verträgt – es gibt auch zusehends weniger Frauen, die es als gottgegeben ansehen, daheim am Herd darauf zu warten, bis sich der Herr des Hauses mit drei, vier Halben im Gesicht an den gemachten Esstisch setzt.

Früher war es nicht ungewöhnlich, mittags einen sitzen zu haben. Im Zweifel haben das die anderen gar nicht gemerkt, weil sie selbst angeheitert waren. Heute muss man auch sonntags funktionieren. Wenn die Kinder ein Date in der Boulderhalle haben, muss sie halt noch einer hinfahren können, die Polizei drückt ja kein Auge mehr zu. Früher gab es feste Tischzeiten.

Heute gehört zur Vorstellung von persönlicher Freiheit, dass man am Sonntag ein spätes Frühstück macht (dann braucht man mittags nicht zu kochen), und danach mal schaut, welche der vielen Optionen – Tegernsee? Terrasse? Tanztheater? – man wahrnimmt.

Auch wochentags saßen früher Leute unterschiedlichster sozialer Herkunft oft stundenlang im Wirtshaus und haben politisiert, Witze erzählt, gekartelt. Nicht nur, dass heute kaum mehr einer karteln kann und auch die Kunst des Witzeerzählens dem Argwohn des Allzuzotigen zum Opfer gefallen ist. Der wirtschaftliche Druck auf Wirte ist heute oft so hoch oder manchmal auch ihre Gier so groß, dass sie es sich nicht mehr leisten können oder wollen, dass die Leute wenig konsumieren. Kollateralnutzen: Die Stammtischbrüder sind früh daheim und können ohne Fahne die Kinder ins Bett bringen.

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Alles hat zwei Seiten. Trotzdem oder gerade deshalb sollte man den Kampf um den Stammtisch nicht aufgeben, ihn vielmehr mit den Waffen seiner angeblichen Gegner führen. Wohlan: Der Stammtisch ist, auch wegen der geschlechtlichen Homogenität, ein Safe Space oder, mit Foucault gesprochen, ein Andersort. So wie man im Schwimmbad halb nackt rumläuft, ohne sich bloßgestellt zu fühlen, so kann man am Stammtisch einen raushauen, ohne dass einem gleich der Faktenchecker auf den Hals gehetzt wird. Wohlgemerkt: Auch Frauen können Stammtische gründen. Und selbst die Wirte müssen nicht darben. Sie bekommen durch die Stammtische etwas Unbezahlbares, was nicht nur in Wirtshäusern, sondern im ganzen Land rar geworden ist: Atmosphäre, Seele.

QOSHE - Auch der Stammtisch ist ein Safe Space - Timo Frasch, München
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Auch der Stammtisch ist ein Safe Space

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19.03.2024

Der stellvertretende bayerische Ministerpräsident Hubert Aiwanger hat behauptet, es gebe „Leute im System“, „die wollen, dass die kleinen Dorfwirtshäuser schließen, weil sie sagen, ich will nicht mehr, dass da ein Stammtisch beieinandersitzt, der miteinander politisiert, sondern ich will dem sagen, was er zu denken hat über andere Kanäle“. Das ist ziemlicher Käse.

Wo Aiwanger aber einen Punkt hat: dass der Stammtisch als Ort der politischen Willensbildung nicht den besten Ruf genießt. Das zeigt der Begriff „Stammtisch-Parole“, der nicht weit entfernt ist von „Scheißhaus-Parole“, um es stammtischgerecht zu formulieren. Was auch stimmt: dass die Stammtischkultur auf dem Rückzug ist. Die Gründe sind aber weniger bei „Leuten im System“ zu finden als in gesellschaftlichen Entwicklungen. Für die mögen die Gegner Aiwangers (Grüne, SPD etc.) eher verantwortlich sein als CSU und Freie........

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