Hunderttausende gingen zuletzt in Deutschland auf die Straße. Was sagt das über unser Land? Einerseits nichts Gutes, weil sich die Leute offensichtlich nicht mehr anders zu helfen wissen. Andererseits haben sie sowohl in der Provinz als auch in den Großstädten demonstriert und damit gezeigt, dass auch diese Kluft nicht so groß ist, wie oft getan wird. Sie haben sich vom Sofa herunterbewegt, statt ihren Frust in den sozialen Medien abzuladen, und sich für etwas engagiert, das über die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung hinausgeht: die Demokratie.

Gut war auch, dass Leute zusammen an der frischen Luft waren, die sonst kaum in Kontakt kämen. Die Neigung ist heute ja sehr verbreitet, alles auszuschließen, was einem nicht passt, sodass man am Ende nur noch mit sich selbst im Reinen ist. Dass in München die sehr weit links stehende Versammlungsleiterin nicht einmal die CSU bei der Demo haben wollte, ist ein Witz – auch so kann man die Grenzen des Sagbaren verschieben. Aber selbst im Umgang mit extrem Rechten sind Abgrenzungs- und Reinheitsrituale zweifelhaft. Der Frontmann der Band Frei.Wild, in seiner Jugend ein rechter Skinhead, hat kürzlich in der F.A.Z. gesagt: „Wenn man junge, politisch verirrte Leute zurückholen will, gibt es bessere Möglichkeiten, als sie weiter ins Abseits zu brüllen. Mein Auffangnetz waren Liebe, Zuhören, Diskutieren.“

Ein Hauptgrund dafür, dass Menschen den Eindruck haben, sie müssten auf die Straße, ist, dass sie die Politik in Parteien und Parlamenten als eine Als-ob-Politik empfinden. Da sind sich die unterschiedlichen Lager näher, als sie denken. Viele fühlen sich vertröstet und veräppelt. Das ist so bei der Begrenzung der illegalen Migration. Das gilt aber auch für die Abgrenzung von der AfD.

Was sind da nicht die Backen aufgeblasen worden! Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder sagte einst, keinen Kaffee solle man mehr mit denen von der AfD trinken. Als er nach der Wahl eines AfD-Landrats in Thüringen gefragt wurde, was er zu tun gedenke, wenn das in Bayern passiere, sagte er, das werde in Bayern nicht passieren. Ach ja?

Am Mittwoch sind im Bayerischen Landtag auch AfD-Kandidaten auf einer Liste als Mitglieder an den Verfassungsgerichtshof mitgewählt worden, von CSU und Freien Wählern. Das hatte triftige Gründe: Hätte man die AfD-Kandidaten in Einzelabstimmungen durchfallen lassen, wäre das Gericht womöglich nicht mehr arbeitsfähig gewesen. Trotzdem: Konsequent ist anders. Das gilt freilich auch für die Grünen, die vor fünf Jahren die AfD-Leute noch durchgewunken haben, sie nun aber als „Verfassungsfeinde“ markieren. Sicher?

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Die AfD ist nicht so stark geworden, weil sie glaubwürdiger wäre als die anderen; den meisten Mitgliedern der bayerischen AfD-Landtagsfraktion würde man einen Gebrauchtwagen nicht einmal verkaufen, geschweige denn abkaufen. Die AfD profitiert vielmehr davon, dass die anderen Parteien über Jahre den Eindruck vermittelt haben, als komme es auf Glaubwürdigkeit nicht mehr an, sondern auf Effekt. Gute Beispiele dafür sind Christian Lindners Opportunismus-pur-Rede vor den Bauern oder die Heuchelei der Grünen im Umgang mit Migration und Kernenergie. Auch Hubert Aiwanger spielt ein doppeltes Spiel, indem er als stellvertretender bayerischer Ministerpräsident von Klienteldemo zu Klienteldemo hopst. Er sollte zur Kenntnis nehmen, dass auch die Hunderttausenden vom Wochenende zum Volk gehören und nicht nur die 13.000, die in Erding gegen das Gebäudeenergiegesetz demonstriert haben.

Welche Auswege aus der Misere gibt es? Warum sind die Leute ständig auf der Palme? Vielleicht, weil sie ihrem Leben einen Sinn geben wollen, es größer machen, als es ist. Dafür spricht die Pose der Widerstandskämpfer, die links wie rechts en vogue ist. Vielleicht kann man diese Sehnsucht umlenken: Leute in Berufen, die Sinn stiften, werden in großer Zahl gebraucht. Vielleicht ist aber auch ein Ausbruch nötig, ein „Jailbreak“, wie er dem 2022 verstorbenen Münchner Regisseur Klaus Lemke vorschwebte. Ereignisse können diesen herbeiführen, Personen. Unter den Lebenden muss man da etwas länger suchen.

Anders ist es bei den Toten. In München wurde jüngst Franz Beckenbauers würdig gedacht. Bei allem, was man über ihn, wie über fast jeden Menschen auch Kritisches sagen kann, prägte er eine Zeit maßgeblich mit, in der Deutschland bei sich selbst schien, 1990, noch mehr 2006 – Uli Hoeneß sagte, da sollten wir wieder hin, aber ohne die AfD, was diese gleich wieder zur Entsicherung ihrer Revolver veranlasste.

Beckenbauer verkörperte Offenheit, Humor, Nachsicht, sich selbst und anderen gegenüber. Auf Deutsch: Grandezza. Wäre das nicht mal wieder was, wenn schon nicht als Lösung, so doch als Orientierung? Oder passt das nicht zu unserer Leitkultur?

QOSHE - Viele Menschen fühlen sich vertröstet und veräppelt - Timo Frasch
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Viele Menschen fühlen sich vertröstet und veräppelt

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25.01.2024

Hunderttausende gingen zuletzt in Deutschland auf die Straße. Was sagt das über unser Land? Einerseits nichts Gutes, weil sich die Leute offensichtlich nicht mehr anders zu helfen wissen. Andererseits haben sie sowohl in der Provinz als auch in den Großstädten demonstriert und damit gezeigt, dass auch diese Kluft nicht so groß ist, wie oft getan wird. Sie haben sich vom Sofa herunterbewegt, statt ihren Frust in den sozialen Medien abzuladen, und sich für etwas engagiert, das über die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung hinausgeht: die Demokratie.

Gut war auch, dass Leute zusammen an der frischen Luft waren, die sonst kaum in Kontakt kämen. Die Neigung ist heute ja sehr verbreitet, alles auszuschließen, was einem nicht passt, sodass man am Ende nur noch mit sich selbst im Reinen ist. Dass in München die sehr weit links stehende Versammlungsleiterin nicht einmal die CSU bei der Demo haben wollte, ist ein Witz – auch so kann man die Grenzen des Sagbaren verschieben. Aber selbst im Umgang mit extrem Rechten sind Abgrenzungs- und Reinheitsrituale zweifelhaft. Der Frontmann der Band Frei.Wild, in seiner Jugend ein rechter Skinhead, hat kürzlich in der F.A.Z. gesagt: „Wenn man junge, politisch verirrte Leute zurückholen will, gibt es bessere........

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