Stand: 18.02.2024, 16:17 Uhr

Von: Anetta Kahane

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Wenn der Drang danach, Jüdinnen und Juden zu hassen, größer ist, als die eigenen Lebensumstände und die Betroffener zu verbessern, bricht sich das Totalitäre Bahn. Die Kolumne

Anfang der 1980er Jahre sah der Hackesche Markt in Ostberlin noch grau, abgeblättert und runtergekommen aus. Ich mochte den Ort. Mir gefiel das Hin und Her der Einfahrten und Höfe, die einst von kleinen Werkstätten und Händlern belebt waren. Ich lief, mit einem mauen Gefühl im Bauch und einem Paket im Rucksack, tief in die Höfe hinein. Im dritten Hof links gab es tatsächlich noch einen kleinen privaten Handwerksbetrieb, einen Buchbinder. Ich kannte ihn flüchtig und wusste daher, wie riskant meine Bitte an ihn war. Ich gab ihm das Paket und fragte ihn, ob er mir das wohl binden könnte. Drinnen waren, mit Gummiband zusammengehalten, die kopierten Seiten von Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“.

Das Buch war in der DDR verboten. Es zu besorgen, hatte Mut gebraucht. Einen Kopierer zu finden und dafür zu benutzen, dieses dicke Buch zu kopieren, erforderte Einfallsreichtum und war riskant. Nicht ohne Grund gab es keine Kopierer in der DDR. Ich vertraute dem Buchbinder also die Courage einer ganzen Reihe von Menschen an, die mit Hannah Arendt über das Totalitäre des Nationalsozialismus, aber eben auch des Stalinismus und der DDR nachdenken wollten. Der Buchbinder tat, als sähe er den Titel nicht, und nickte. „Ledereinband?“, fragte er. Das Buch würde durch viele Hände gehen. „Ja gern“, antwortete ich und ging.

Als vor kurzem im Hamburger Bahnhof in Berlin eine Lesung ebendieses Werkes stattfand, stürmten propalästinensische Gruppen das Geschehen und brüllten die Veranstalter und die Leiterin der Jüdischen Museums Frankfurt nieder. Mit schriller Verve schrien sie ihren Hass heraus. Es ging längst nicht mehr nur um Israel. Es ging um das System. Es ging um Fanatismus und Antisemitismus. Die Stimmung war aggressiv, hochideologisiert, aufgeputscht und entschlossen. Die Demokratie, die diesen Leuten ihren Hass auf alles Jüdische herauszubrüllen erlaubte, wurde als faschistisch beschimpft. Und die ersehnte Erlösung von allem Übel lautete: „Palästina wird uns befreien.“ Genau das ist das Ideengebäude des Totalitarismus. Verbreitet durch die modernen Massenmedien, frei von jeglicher Vernunft und bereit, alles niederzureißen, selbst bei Strafe des eigenen Untergangs. Hier, wie in so vielen anderen Fällen der vergangenen Monate, ging es nicht um Gaza und die Palästinenser und deren Leid, sondern um Zerstörung.

Antisemitismus war schon immer die Klippe, die zu überrennen in den Abgrund führt. Der Hamburger Bahnhof steht hier symbolisch für eine internationale Kulturszene, die keinerlei Interesse an realen Konfliktlösungen hat, dafür geradezu lebensüberdrüssig Despoten und islamistischen Mördern hinterherläuft. Wenn der Drang danach, die Juden mehr zu hassen, größer ist, als die eigenen Lebensumstände und die von Betroffenen zu verbessern, bricht sich das Totalitäre Bahn.

Ich lese heute Hannah Arendt anders, als ich es in der DDR tat. Die Welt hat sich verändert, genau wie ich selbst. Aber etwas hat sich in meine Erfahrung eingebrannt. Es war das Lächeln des Buchbinders, als er mir das eingebundene Exemplar übergab. Mit seinem Lächeln drückte er aus, dass er wusste, was es bedeutet, dieses Buch zu übergeben. Es ist das große Bedürfnis, Totalitarismus zu überwinden. Besonders, wenn es dafür den Mut von vielen braucht. Und er, im dritten Hof links, gehörte nun auch dazu.

Anetta Kahane war Vorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung.

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Hannah Arendt und der Untergang der Vernunft

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18.02.2024

Stand: 18.02.2024, 16:17 Uhr

Von: Anetta Kahane

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Wenn der Drang danach, Jüdinnen und Juden zu hassen, größer ist, als die eigenen Lebensumstände und die Betroffener zu verbessern, bricht sich das Totalitäre Bahn. Die Kolumne

Anfang der 1980er Jahre sah der Hackesche Markt in Ostberlin noch grau, abgeblättert und runtergekommen aus. Ich mochte den Ort. Mir gefiel das Hin und Her der Einfahrten und Höfe, die einst von kleinen Werkstätten und Händlern belebt waren. Ich lief, mit einem mauen Gefühl im Bauch und einem Paket im Rucksack, tief in die Höfe hinein. Im dritten Hof links gab es tatsächlich noch einen kleinen privaten Handwerksbetrieb, einen Buchbinder. Ich kannte ihn flüchtig und wusste daher, wie riskant meine Bitte an ihn war. Ich gab ihm das Paket und fragte ihn, ob er mir das wohl binden könnte. Drinnen waren, mit Gummiband........

© Frankfurter Rundschau


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