Stand: 22.04.2024, 17:10 Uhr

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Brüssel sollte mit dem „Green New Deal“ auch günstigen Wohnraum fördern.

Seit Digitalnomaden aus Europa Lissabon für sich entdeckten, explodieren in der Stadt die Mieten. Die zahlungskräftige Nachfrage dieser Beschäftigten der Tech-Branche machte die einst günstige Metropole für viele Portugies:innen unbezahlbar und verdrängte Alteingesessene an den Stadtrand.

Ursache der drastischen Mietsteigerungen ist die Abschaffung der Mietpreisbremse für Altbauten. Das krisengeschüttelte Land hatte diese 2012 auf Druck des Internationalen Währungsfonds, der europäischen Zentralbank und der Europäischen Kommission aufgehoben, um an neue Kredite zu gelangen.

Dieses Beispiel zeigt: Die Wohnungsfrage ist europäisch. Wenn vom 6. bis 9. Juni die Europawahlen stattfinden, dürften dennoch die wenigsten beim Gang an die Wahlurne zuerst an das Thema Wohnen denken. Wohnungspolitik wird bisher wie kaum ein anderes Politikfeld vorrangig lokal betrachtet. Dabei hat die Europäische Union schon jetzt mehr Einfluss auf die eigenen vier Wände, als den meisten bekannt ist. Diesen sollte sie für die Förderung leistbaren Wohnens in den EU-Staaten nutzen. Das lässt sich an zwei Beispielen skizzieren.

Beispiel eins: Das EU-Beihilferecht regelt, wann Staaten Unternehmen finanziell durch Förderung und Zuschüsse unter die Arme greifen dürfen. Investitionen sind möglich, wenn Firmen Dienstleistungen erbringen, die „der Markt“ nicht leistet – wie den sozialen Wohnungsbau.

Die Staaten dürfen den Wohnungsbau fördern und damit Unternehmen finanziell bevorteilen, wenn diese Wohnungen an Menschen mit besonders geringen Einkommen vergeben werden. Für alle anderen soll der private Wohnungsmarkt sorgen. Infolge von Vertragsverletzungsverfahren mussten die Niederlande und Schweden ihre Programme des sozialen Wohnungsbaus auf die Versorgung der Einkommensärmsten beschränken.

Von Neapel über Paris bis nach Berlin wird aber immer spürbarer: die marktkonforme Wohnraumversorgung ist nicht in der Lage, breite Schichten mit leistbarem Wohnraum zu versorgen. In Berlin hätten nahezu eine Million Haushalte Anspruch auf eine Sozialwohnung, doch es existieren nur etwa 100 000 davon. Das ist fatal.

Im letzten Jahrhundert gab es bereits Ansätze, diesem Missstand zu begegnen. In den 1920er Jahren und in den Nachkriegsjahrzehnten wurde der Wohnungsnot in vielen europäischen Staaten mit großen, öffentlichen Bauprogrammen begegnet, die gemeinnützige und kommunale Wohnungsbaugesellschaften in die Lage versetzten, Millionen neue Wohnungen und ganze Stadtviertel zu errichten.

Auch heute könnten öffentliche Wohnungsbauprogramme eine entscheidende Wegmarke sein, um leistbares Wohnen für breite Bevölkerungsschichten zu sichern. Die starren Grenzen des EU-Beihilferechts sollten dafür dringend reformiert werden, damit die EU bezahlbaren Neubau gezielt fördern kann.

Beispiel zwei: Anders als beim Wohnungsbau agiert die EU bei der energetischen Gebäudesanierung nicht als Bremserin, sondern tritt auf das Gaspedal. Mitte April hat die EU eine neue Gebäuderichtlinie beschlossen, die einen verbindlichen Fahrplan für die Modernisierung des Gebäudebestands vorschreibt. Bis 2030 müssen 16 Prozent CO2-Emissionen im gesamten Wohngebäudebestand eingespart werden. Bis 2035 sind Einsparungen bis 22 Prozent im Vergleich zum Jahr 2020 vorgesehen.

Die EU-Staaten müssen die Vorgaben bis Ende 2026 in nationales Recht umsetzen. Zwar enthält die Richtlinie erstmals einige soziale Vorgaben, aber die entscheidende Frage bleibt offen: Wer wird für die Sanierungen der Gebäude am Ende zur Kasse gebeten?

Wenn vor allem Eigenheimbesitzer:innen, Mieterinnen und Mieter die Kosten für die neuen Sanierungsvorgaben aus Brüssel tragen, wird die Gebäuderichtlinie zu einem Durchlauferhitzer für die ohnehin weit verbreitete EU-Skepsis. Die Debatte um das Heizungsgesetz im vergangenen Sommer bot einen ersten Vorgeschmack auf den enormen sozialen Sprengstoff.

Die EU braucht einen Paradigmenwechsel. Sie sollte leistbares Wohnen zu einem wesentlichen Bestandteil eines „Green New Deal“ machen und mehr öffentliche Verantwortung für das Wohnen durch die EU-Staaten fördern. Mit reformierten Vorgaben und umfassenden Investitionen in den staatlichen und sozialen Wohnungsbau sowie einer sozialverträglichen energetischen Sanierung könnte die EU einen wichtigen Beitrag leisten, um die Staaten bei der Lösung der Wohnungsfrage zu unterstützen.

Niklas Schenker ist Sprecher für Mieten und Wohnen der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus.

Philipp Möller ist Redakteur der Zeitschrift „Mieterecho“.

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Die EU und die Wohnungsnot

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22.04.2024

Stand: 22.04.2024, 17:10 Uhr

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Brüssel sollte mit dem „Green New Deal“ auch günstigen Wohnraum fördern.

Seit Digitalnomaden aus Europa Lissabon für sich entdeckten, explodieren in der Stadt die Mieten. Die zahlungskräftige Nachfrage dieser Beschäftigten der Tech-Branche machte die einst günstige Metropole für viele Portugies:innen unbezahlbar und verdrängte Alteingesessene an den Stadtrand.

Ursache der drastischen Mietsteigerungen ist die Abschaffung der Mietpreisbremse für Altbauten. Das krisengeschüttelte Land hatte diese 2012 auf Druck des Internationalen Währungsfonds, der europäischen Zentralbank und der Europäischen Kommission aufgehoben, um an neue Kredite zu gelangen.

Dieses Beispiel zeigt: Die Wohnungsfrage ist europäisch. Wenn vom 6. bis 9. Juni die Europawahlen stattfinden, dürften dennoch die wenigsten beim Gang an die Wahlurne zuerst an das Thema Wohnen denken. Wohnungspolitik wird bisher wie kaum ein anderes Politikfeld vorrangig lokal betrachtet. Dabei hat die Europäische Union schon jetzt mehr Einfluss auf die eigenen vier Wände, als den meisten bekannt ist. Diesen sollte........

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