Stand: 19.02.2024, 16:59 Uhr

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Die Ampel darf sich bei dem Regelwerk nicht enthalten. Vielmehr muss sie es unterstützen.

Das EU-Lieferkettengesetz ist ein Wortungetüm aus vier Bestandteilen und acht Silben. Was es bezeichnet, lässt sich auf den ersten Blick nicht entschlüsseln. Wenn die FDP von einem „Bürokratiemonster“ spricht, dann ist man geneigt, das sofort zu glauben. Wenn schon die EU ein Bürokratiemonster ist, dann ist das EU-Lieferkettengesetz doch bestimmt erst recht eines. Und doch darf man dieser Erzählung, so einfach sie ist, so naheliegend sie scheint, keinen Glauben schenken. Denn sie ist falsch.

Die EU unter belgischer Ratspräsidentschaft versucht weiter, das Gesetz ins Leben zu rufen. Denn seitdem Deutschland in Aussicht gestellt hat, sich bei der Abstimmung zu enthalten, wurde verschoben, auch um das Vorhaben nicht zu gefährden.

Wenn sich Deutschland weiter enthält, wäre dies ein Skandal. Denn damit begeht die Bundesregierung Wortbruch. Im Koalitionsvertrag heißt es: „Wir unterstützen ein wirksames EU-Lieferkettengesetz, basierend auf den UN-Leitprinzipien Wirtschaft und Menschenrechte“. Das hat die Bundesregierung auch getan: Sie hat mitverhandelt, und damit den Entwurf sogar abgeschwächt. Immer aber stand sie hinter dem Gesetz. Bis Mitte Januar die FDP verlangte, das Vorhaben zu stoppen.

Die Enthaltung Deutschlands untergräbt den eigenen Koalitionsvertrag, aber viel schlimmer: Sie untergräbt die jahrelangen Bemühungen um einen Fortschritt für die Menschenrechte. Denn das EU-Lieferkettengesetz wurde – anders als es die FDP darstellt – nicht ersonnen, um Unternehmen zu schikanieren. Es wurde erdacht, damit Unternehmen endlich in die Verantwortung genommen werden können, ihre Produktionsbedingungen und Produkte daraufhin abzuklopfen, ob sie fürs Klima und für die Menschenrechte unbedenklich sind.

Oder anders formuliert: Diejenigen Arbeiterinnen und Arbeiter, die durch Produktionsbedingungen oder Produkte in ihren Menschenrechten verletzt werden, können sich nun endlich wehren. Sie werden ernst genommen und im Zweifel entschädigt. Amnesty International (AI) hat allein im vergangenen halben Jahr grausame Beispiele dokumentiert, die den dringenden Handlungsbedarf unterstreichen.

Im Januar haben wir belegt, welche verheerenden Auswirkungen die Herstellung von Petrochemikalien, also Produkte aus Erdgas und Rohöl, auf die Menschenrechtslage der betroffenen Gemeinden in den USA haben. Schulkinder atmen diese Chemikalien regelmäßig ein, obwohl bekannt ist, dass sie Krebs, Atemwegserkrankungen und bei späterer Schwangerschaft Missbildungen an Embryos verursachen.

Viele Anlagen haben erschreckende Sicherheitslücken. Immer wieder treten schädliche Chemikalien aus, ohne dass es zu nennenswerten Konsequenzen oder Strafen kommt. Die betroffenen Menschen haben kaum oder gar keinen Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung, Abhilfe oder Wiedergutmachung. Verursacher dieser Menschenrechtsverletzungen sind unter anderem europäische Unternehmen wie Lyondellbasell und Shell.

Im Oktober haben wir gezeigt, dass der Handel mit sogenannten weniger tödlichen Waffen wie Tränengas, Gummigeschosse, Schlagstöcke und Blendgranaten, dazu führt, dass Staaten diese zur gewaltsamen Unterdrückung von Protesten einsetzen. Verantwortlich ist mit Cheddite auch ein französisch-italienisches Unternehmen, das Granaten und Patronen herstellt. Patronen von Cheddite, die mit Bleischrot gefüllt werden können und für die Jagd gedacht sind, wurden im Iran rechtswidrig gegen Demonstrierende eingesetzt.

Im September haben wir belegt, dass die Rohstoffförderung in der Demokratischen Republik Kongo zu rechtswidrigen Zwangsräumungen, Brandstiftung, Misshandlungen und sexualisierter Gewalt durch Sicherheitskräfte geführt hat. Auch hier waren europäische Firmen beteiligt – etwa die Eurasian Resources Group (ERG), ein Konzern mit Sitz in Luxemburg.

Landwirte berichteten AI, dass Soldaten ihre nahe gelegenen Felder verwüstet hatten. Eine Frau schilderte, wie sie versuchte, ihre Ernte vor der Vernichtung zu retten, als sie von drei Soldaten angegriffen und vergewaltigt wurde.

Diese drei Beispiele verdeutlichen: Es geht beim EU-Lieferkettengesetz nicht um ein Bürokratiemonster. Es geht um Menschen und reelle Auswirkungen von Firmenaktivitäten auf ihre Leben, ihre Gesundheit, ihre Existenzen.

Das EU-Lieferkettengesetz steht nicht vor dem Aus – Deutschland hat noch die Chance, von seinem Irrweg abzusehen und sich doch noch auf seine selbst postulierte wertegeleitete Außenpolitik zu besinnen. Die Interessen von Ölkonzernen stehen nicht über den Interessen von Schulkindern. Die Rechte der Kobaltindustrie stehen nicht über den Rechten von Landwirten. Und Profite dürfen nicht auf Kosten der Menschenrechte gemacht werden.

Julia Duchrow ist Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland.

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EU-Lieferkettengesetz muss kommen

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19.02.2024

Stand: 19.02.2024, 16:59 Uhr

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Die Ampel darf sich bei dem Regelwerk nicht enthalten. Vielmehr muss sie es unterstützen.

Das EU-Lieferkettengesetz ist ein Wortungetüm aus vier Bestandteilen und acht Silben. Was es bezeichnet, lässt sich auf den ersten Blick nicht entschlüsseln. Wenn die FDP von einem „Bürokratiemonster“ spricht, dann ist man geneigt, das sofort zu glauben. Wenn schon die EU ein Bürokratiemonster ist, dann ist das EU-Lieferkettengesetz doch bestimmt erst recht eines. Und doch darf man dieser Erzählung, so einfach sie ist, so naheliegend sie scheint, keinen Glauben schenken. Denn sie ist falsch.

Die EU unter belgischer Ratspräsidentschaft versucht weiter, das Gesetz ins Leben zu rufen. Denn seitdem Deutschland in Aussicht gestellt hat, sich bei der Abstimmung zu enthalten, wurde verschoben, auch um das Vorhaben nicht zu gefährden.

Wenn sich Deutschland weiter enthält, wäre dies ein Skandal. Denn damit begeht die Bundesregierung Wortbruch. Im Koalitionsvertrag heißt es: „Wir unterstützen ein wirksames EU-Lieferkettengesetz, basierend auf den UN-Leitprinzipien Wirtschaft und Menschenrechte“. Das hat die Bundesregierung auch getan:........

© Frankfurter Rundschau


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