Stand: 19.04.2024, 15:55 Uhr

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Jüdinnen und Juden kämpften mit vielen Mitteln gegen die Auslöschung durch die Nazis. Es wird endlich Zeit, das mehr zu würdigen. Ein Gastbeitrag von Sarah Stemmler von der Bildungsstätte Anne Frank.

Warschau – Am 19. April 1943, heute vor 81 Jahren, schlugen jüdische Widerstandskämpfer:innen die SS-Einheiten im Warschauer Ghetto in die Flucht. Mit Molotow-Cocktails, Handgranaten und Gewehren nahmen sie die Nazis unter Beschuss und zwangen sie zum Rückzug. Sie führten einen aussichtslosen Kampf, in dem Bewusstsein, dass sie nicht gewinnen und ihre Deportation in eines der Todeslager nicht aufhalten konnten – doch sie wollten sich nicht widerstandslos ermorden lassen. Die Kämpfe zogen sich über Wochen, bis die Deutschen schließlich das Ghetto in Brand steckten und Gas in die Verstecke der Kämpfer:innen leiteten. Am 8. Mai 1943 waren die meisten Mitglieder des Widerstandes gestorben oder hatten Suizid begangen.

In dem von einer drei Meter hohen Mauer umgebenen Ghetto lebten zeitweise bis zu 460.000 Menschen. Diejenigen, die nicht an Mangelernährung, Krankheit oder Kälte starben, wurden in die umliegenden Vernichtungslager deportiert. Die Widerstandskämpfer:innen konnten die Deportationen verzögern – und töteten eine unbekannte Zahl von SS-Soldaten. Der Aufstand im Warschauer Ghetto wurde zum Symbol für jüdischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Er zeigt, dass Jüdinnen und Juden nicht aufgegeben haben, dass sie sich nicht wie „Lämmer zur Schlachtbank“ haben führen lassen – ein Narrativ, das nach Ende des Zweiten Weltkriegs vielfach benutzt wurde.

Dabei gab es eine Vielzahl an Widerstandsaktionen: In mindestens 50 osteuropäischen Ghettos haben laut Historiker:innen bewaffnete Aufstände und Ausbruchsversuche stattgefunden. Auch in den Konzentrations- und Todeslagern gab es Widerstandsgruppen. Im polnischen Lager Treblinka legten die Gefangenen einen Brand, der 500 bis 600 Menschen die Flucht ermöglichte. In Belzec wehrten sich Jüdinnen und Juden mit Steinen gegen die SS-Soldaten und zündeten ein Krematorium an. Beim Aufstand von Auschwitz, der lange vorbereitet wurde, sprengten die Widerständler:innen ein Krematorium und verhalfen 100 Gefangenen zur Flucht.

Viele, denen die Flucht aus dem Ghetto gelang, schlossen sich Partisan:innen an. Die größte jüdische Widerstandsgruppe dieser Art in Polen wurde von den Bielski-Brüdern gegründet: Tuvia, Zus, Asael und Aharon Bielski errichteten ein geheimes Dorf im Wald, in dem über 1200 Menschen den Holocaust überlebten. Die Bielski-Partisan:innen halfen Jüdinnen und Juden bei der Flucht aus umliegenden Ghettos und beteiligten sich an Sabotageaktionen, etwa gegen die Transportwege der Deutschen.

Jüdinnen und Juden, die rechtzeitig aus Deutschland fliehen konnten, traten vielfach in die Armeen der Alliierten ein. Der Historiker Daniel Schmiedke geht davon aus, dass mehr als 30.000 deutschsprachige Jüdinnen und Juden als Soldat:innen im Kampf gegen das NS-Regime zurückkehrten.

Der jüdische Widerstand hatte viele Formen – und wurde nicht immer mit Waffen ausgeübt. Insbesondere in den Ghettos widersetzten sich die Gefangenen dadurch, dass sie ihre Kultur bewahrten, für die Bildung ihrer Kinder sorgten und die Verbrechen der Nationalsozialisten in Tagebüchern und Chroniken festhielten. Im Warschauer Ghetto fanden Konzerte und Theateraufführungen statt, Lesungen und Diskussionsveranstaltungen. So schufen Jüdinnen und Juden nicht nur eine Zuflucht, sondern behaupteten sich auch gegen die Auslöschung ihrer Kultur.

Trotz der Vielfalt des jüdischen Widerstands ist dieser in der deutschen Erinnerungskultur kaum präsent. Laut Achim Doerfer hängt das damit zusammen, dass die Erinnerung an Jüdinnen und Juden in der NS-Zeit von einer Opfer-Ikonographie geprägt ist. Der Jurist und Philosoph beschreibt, dass vor allem die Bilder von Kranken, Verhungernden und Sterbenden im kollektiven Gedächtnis verankert sind, nicht aber die Bilder von Partisan:innen oder jüdischen Soldat:innen in den Armeen der Alliierten. Stattdessen erinnern wir uns vor allem an nichtjüdische Widerständler:innen, wie die Studierendengruppe „Die Weiße Rose“. Das ist zwar wichtig, vermittelt aber ein schiefes Bild: von einzelnen widerständigen Deutschen und passiven Opfern. Proportional betrachtet war der jüdische Widerstand viel zahlreicher.

Es gibt Stimmen, die sich für einen Feiertag am 19. April aussprechen, der dem Aufstand im Warschauer Ghetto gewidmet ist. Es könnte ein guter Ansatz sein, das Gedenken positiv zu verändern, indem auch an den jüdischen Widerstand erinnert wird, statt nur an ihre Ermordung. In Israel wird genau das getan: und zwar am Nationalfeiertag Yom Hashoah, an dem an die Held:innen des Holocaust gedacht wird.

Sarah Stemmler ist Politikwissenschaftlerin und Social-Media-Redakteurin bei der Bildungsstätte Anne Frank.

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Warum erinnern wir so wenig an jüdischen Widerstand?

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19.04.2024

Stand: 19.04.2024, 15:55 Uhr

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Jüdinnen und Juden kämpften mit vielen Mitteln gegen die Auslöschung durch die Nazis. Es wird endlich Zeit, das mehr zu würdigen. Ein Gastbeitrag von Sarah Stemmler von der Bildungsstätte Anne Frank.

Warschau – Am 19. April 1943, heute vor 81 Jahren, schlugen jüdische Widerstandskämpfer:innen die SS-Einheiten im Warschauer Ghetto in die Flucht. Mit Molotow-Cocktails, Handgranaten und Gewehren nahmen sie die Nazis unter Beschuss und zwangen sie zum Rückzug. Sie führten einen aussichtslosen Kampf, in dem Bewusstsein, dass sie nicht gewinnen und ihre Deportation in eines der Todeslager nicht aufhalten konnten – doch sie wollten sich nicht widerstandslos ermorden lassen. Die Kämpfe zogen sich über Wochen, bis die Deutschen schließlich das Ghetto in Brand steckten und Gas in die Verstecke der Kämpfer:innen leiteten. Am 8. Mai 1943 waren die meisten Mitglieder des Widerstandes gestorben oder hatten Suizid begangen.

In dem von einer drei Meter hohen Mauer umgebenen Ghetto lebten zeitweise bis zu 460.000 Menschen. Diejenigen, die nicht an Mangelernährung, Krankheit oder Kälte starben, wurden in die umliegenden........

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