Stand: 01.02.2024, 16:15 Uhr

Von: Petra Kohse

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Manche Meldungen aus Kriegsgebieten berühren sehr. In der Fähigkeit zum Mitleiden zeigt sich, wer man ist. Die Kolumne

In der BBC höre ich, dass im Gazakrieg bereits 19 000 palästinensische Kinder verwaist und gänzlich ohne erwachsene Obhut sind. Eine Zahl der UN, die erstmal sacken muss und Raum braucht. Aufhänger des Berichts war ein neugeborenes Mädchen, das per Notkaiserschnitt entbunden wurde, nachdem die Mutter bei einem israelischen Luftangriff ums Leben kam. Als ich den Beitrag auf der Website der BBC nachlesen will, werde ich gewarnt: „Dieser Bericht enthält Beschreibungen, die manche als beunruhigend empfinden könnten.“ Das tue ich und lese trotzdem. Das Radio habe ich ja auch nicht ausgestellt.

19 000 Kinder. Die kleine Stadt, in der ich aufgewachsen bin, hatte ungefähr so viele Einwohner und Einwohnerinnen. Ich stelle mir die elternlosen Kinder aus Gaza an diesem Ort in der schwäbischen Provinz vor. Kinder in Windeln, im Schulalter oder auch Jugendliche, die dort die Vorgärten harken, die Autos lenken, im Supermarkt an der Kasse sitzen, Regale einräumen und einkaufen, Falschparker aufschreiben, die Eisbahn und die Schwimmhalle betreiben, das Lehrerkollegium des örtlichen Gymnasiums stellen – die Stadt hatte alles, und wenn ich jeden, der oder die damals dort war, als Erinnerungspaten für ein verwaistes Kind in Gaza in die Pflicht nehme, wird aus der Zahl ein fassbares Bild, eine Welt, ein Horror. Und die israelischen Kinder und ukrainischen Kinder und syrischen Kinder und die Kinder in Äthiopien und im Sudan und überall.

Natürlich ist es beliebig, sich mal eben von einer Nachricht berühren zu lassen. Warum von dieser und nicht der nächsten? Eine Zahl unter vielen, die täglich durchrattern. Aber doch: Wer wird denn nun für diese Kinder sorgen? Nicht nur mit Essen. Sondern wer wird wissen, wer sie sind und sein wollen, welche Talente sie haben? Wer wird ihnen ein Stofftier kaufen, sie zur Logopädie begleiten, einen Schwimmkurs buchen und nachts am Bett sitzen, wenn in der Dunkelheit böse Affen lauern? Wer fotografiert sie beim Spaghetti-Essen und am Kindergeburtstag, wer bastelt mit ihnen Laternen, wer weiß, dass sie keine weißen Gummibärchen mögen? Und das ist erst der Basisbereich der nach oben offenen Mittelstandselternskala deutscher Norm.

„Wenn du mehr hast, musst du etwas abgeben, sonst ist das nicht gerecht“, sagt im Kino eine Mutter neben mir zu ihren Popcorn essenden Jungs. Aber gilt Gerechtigkeit nur für die Satten? Wie erklärt man Kindern den Krieg, ohne zu reproduzieren, was zu überwinden wäre? Gibt es ein Richtig im Falschen? Fragen – frei nach Brecht – einer radiohörenden Mutter. Ja, der Ansatz ist naiv. Genauso naiv wie die Frage, warum es sich manche Tiere auf dem Sofa gemütlich machen dürfen, während andere, viel intelligentere, nur gezüchtet werden, um als Billigfleisch das Kühlregal zu füllen. Aber vielleicht ist Naivität ja eine Inspiration, wenn Schläue in die Sackgasse führt. Vielleicht braucht es Vertrauen und Glauben, wenn alles Wissen nichts mehr nutzt.

Im Kino lief der französische Film „Animalia“ von Thomas Cailley, eine Dystopie, in der Menschen zu Tierwesen mutieren – und der zeigt, wie unterschiedlich die Gesellschaft auf Veränderung, auf das Fremde reagiert. In der Angst zeigt sich, wer man ist. In der Fähigkeit zum Mitleiden auch. Und klar ist, im Film wie in der Wirklichkeit, dass es „die anderen“ nicht gibt, sondern jedes Schicksal zum eigenen werden kann, früher oder später.

Petra Kohse ist Kulturredakteurin, Buchautorin und Heilpraktikerin für Psychotherapie.

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Kriege in Gaza und anderswo: Fragen einer radiohörenden Mutter

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01.02.2024

Stand: 01.02.2024, 16:15 Uhr

Von: Petra Kohse

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Manche Meldungen aus Kriegsgebieten berühren sehr. In der Fähigkeit zum Mitleiden zeigt sich, wer man ist. Die Kolumne

In der BBC höre ich, dass im Gazakrieg bereits 19 000 palästinensische Kinder verwaist und gänzlich ohne erwachsene Obhut sind. Eine Zahl der UN, die erstmal sacken muss und Raum braucht. Aufhänger des Berichts war ein neugeborenes Mädchen, das per Notkaiserschnitt entbunden wurde, nachdem die Mutter bei einem israelischen Luftangriff ums Leben kam. Als ich den Beitrag auf der Website der BBC nachlesen will, werde ich gewarnt: „Dieser Bericht enthält Beschreibungen, die manche als beunruhigend empfinden könnten.“ Das tue ich und lese trotzdem. Das Radio habe ich ja auch nicht ausgestellt.

19 000 Kinder. Die kleine Stadt, in der ich aufgewachsen bin, hatte ungefähr so viele........

© Frankfurter Rundschau


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