Stand: 14.11.2023, 21:56 Uhr

Von: Stephan Hebel

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Wer Zusammenhänge im Nahost-Konflikt erkennen und benennen will, muss diesem Anspruch gegenüber allen Seiten gerecht werden. Polarisieren hilft nicht weiter.

1Im Schweizer Fernsehen gab es vor knapp zwei Wochen ein großartiges Interview mit dem deutsch-israelischen, in New York lehrenden Philosophen Omri Boehm. Es ging um die Frage, wie mit der grausamen Attacke der Hamas gegen Israel umzugehen sei – und mit der militärischen Antwort Israels. Ja, dazu ist schon viel gesagt und geschrieben worden. Aber Boehms Aussagen stehen in einem erfreulichen Kontrast zu den unguten Polarisierungen, die wir sonst oft erleben.

Zunächst ein kurzer Rückblick: Vor zwei Wochen war ich nur kurz auf die Nahost-Debatte eingegangen, und ich hatte angesichts des Hamas-Angriffs gefragt: „Warum konnte der öffentliche Raum nicht mal für einen Moment, für ein paar Tage und Wochen, der Erschütterung über das Verbrechen des Augenblicks überlassen bleiben?“

Eine hochgeschätzte Kollegin schrieb mir, sie verstehe, „dass das Entsetzen zunächst Vorrang hat“. Aber: „Wir als kritische Journalisten sind ebenso verpflichtet, Kontext herzustellen. In den hiesigen Medien wird genau das bis heute nach meinem Dafürhalten sträflichst vernachlässigt beziehungsweise als Mangel an Solidarität mit israelischen Opfern hingestellt.“ Und weiter: „Was der palästinensischen Zivilbevölkerung derzeit angetan wird, ist mit internationalem Recht und dem Gebot der Verhältnismäßigkeit jedenfalls unvereinbar.“

In meiner Antwort habe ich der Kollegin ausdrücklich zugestimmt, dass „die mediale und auch die politische Öffentlichkeit eher zu eindimensionaler ,Solidarität‘ mit Israel neigt“ (was sich keineswegs gegen Solidarität mit Israel richtet, sondern eben gegen die Eindimensionalität). „Aber“, so meine Antwort weiter, „es gibt eben auch diejenige ,Fraktion‘, die … die Eindimensionalität der undifferenzierten Israel-Verteidiger eins zu eins spiegelt, indem sie die israelischen Opfer weitgehend ignoriert oder ihnen die Empathie verweigert, nur weil sie unter der ,falschen‘ Regierung gelebt haben“. Unter dem Eindruck dieser zynischen Stimmen hatte ich für Denkpausen plädiert.

Womit wir wieder bei Omri Boehm wären. Der Philosoph Wolfram Eilenberger, der gemeinsam mit einer Kollegin das Interview führte, warf an einer Stelle ein: „Manchmal kommt dieses Kontextualisierungsbedürfnis zu schnell im Angesicht des akut Bösen. Da muss man doch vielleicht erst mal bezeugen, eine Pause lassen.“

Was folgte, war nicht etwa ein simples Ja oder Nein, sondern eine Lehrstunde im Umgang mit schmerzhaften Widersprüchen. Boehm stimmte Eilenberger zunächst zu: „Ich erhielt viele Interviewanfragen und habe der Versuchung genau deswegen erst einmal widerstanden.“ Aber: „Auch wenn wir fühlen, dass die richtige Antwort auf diese Schrecken Schweigen ist, müssen wir sehr schnell unser Wort erheben und auch denen widersprechen, die sagen, dass jede Kontextualisierung – also der Versuch, politisch auf die Situation zu reagieren – falsch ist.“

Lassen wir also ruhig einmal offen, ob ein erster Moment des Schweigens nicht manchmal doch angemessen ist. Aber viel wichtiger ist etwas anderes, das man von Omri Boehm lernen kann: Wer Zusammenhänge erkennen und benennen will, zu welchem Zeitpunkt auch immer, muss diesem Anspruch gegenüber allen Seiten gerecht werden.

FR-Autor Stephan Hebel kommentiert an dieser Stelle alle 14 Tage aktuelle politische Ereignisse. Wenn Sie Kritik, Lob oder Themenhinweise haben, schreiben Sie an stephan.hebel@fr.de. Bitte merken Sie dabei auch an, ob Sie mit einer Veröffentlichung einverstanden wären.

fr.de/hebel-meint

Der Text zum Nahost-Konflikt beruht auf dem Vortrag, den Stephan Hebel am 9. November im Frankfurter Club Voltaire in der Reihe „Hebels aktuelle Stunde“ gehalten hat.

Boehm zeigte, wie das geht, indem er die Form der militärischen Antwort auf den Hamas-Angriff klar verurteilte und doch zugleich auf ihren Kontext verwies: eben die existenzielle Erschütterung des israelischen Selbstverständnisses, Sicherheit mit militärischer Abwehrbereitschaft herstellen zu müssen und zu können. Womit das Vorgehen von Regierung und Armee zwar in den Zusammenhang gestellt, aber deshalb noch lange nicht gerechtfertigt sei.

So geht Kontextualisierung, und so geht sie auch umgekehrt: Der Hamas-Angriff vom 7. Oktober, so Boehm, sei „kontextunabhängig zu verurteilen“. Aber: „Man muss den Kontext erwähnen, sonst kann man nicht argumentieren, dass die Verbrechen der Hamas kontextunabhängig zu verurteilen sind.“

Wer meint, das sei zu kompliziert, hat gegenüber der Komplexität der Wirklichkeit schon resigniert. Die Schuld an dem Angriff vom 7. Oktober, die einzig und allein bei den Hamas-Terroristen liegt, klar zu benennen, ist das eine. Aber gerade wer es für eine deutsche Verpflichtung hält, nicht nur die Existenz Israels zu verteidigen, sondern die Politik Israels bedingungslos und unkritisch zu unterstützen, greift viel zu kurz. Denn wenn schon von Staatsräson die Rede ist, dann gehört dazu auch die Verteidigung völkerrechtlicher Regeln, erst recht gegenüber Freunden, die sich darauf offiziell selbst verpflichtet haben. Deshalb ist es problematisch, wenn Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nur von einem Krieg spricht, „den die Hamas auch gegen die eigene Bevölkerung führt“, ohne an Israel wenigstens die Frage nach dem Völkerrecht zu stellen.

Ganz stehengeblieben ist die Debatte zum Glück nicht. Der grüne Vizekanzler Robert Habeck hat vorvergangene Woche die Einhaltung des Völkerrechts angemahnt, ohne den Unterschied zwischen einem immer noch demokratischen Staat und einer Terrororganisation zu verwischen: „Natürlich muss sich Israel an das Völkerrecht und internationale Standards halten. Aber der Unterschied ist: Wer würde solche Erwartung je an die Hamas formulieren?“ Auch Außenministerin Annalena Baerbock spricht zumindest von einem „Dilemma“ zwischen dem berechtigten Verteidigungsinteresse Israels und den realen Folgen des Gegenschlags in Gaza. Und dass Deutschland diesem Dilemma Ausdruck verliehen hat, indem es sich bei der Abstimmung über eine Nahost-Resolution in den Vereinten Nationen enthielt, sollte nicht voreilig als Mangel an Solidarität mit Israel verurteilt werden.

Ich habe die Frage schon im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg gestellt: Warum fällt es uns so schwer, an alle Seiten den Anspruch auf Wahrung der Menschenrechte in gleicher Weise anzulegen? Warum können wir nicht Kontexte benennen – und dazu gehört ganz sicher auch Kritik am „Westen“ –, ohne Putins Verbrechen zu leugnen oder zu relativieren nach dem Motto „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“?

Ob beim Ukraine-Krieg oder beim Nahost-Konflikt: Diese Polarisierung mag dem sehr menschlichen Bedürfnis entsprechen, die Komplexität einer außer Rand und Band geratenen Welt zu reduzieren und eindeutige Grenzen zwischen Gut und Böse zu ziehen. Aber dem Verständnis von Zusammenhängen, ohne das die Lösung solcher Konflikte nie und nimmer möglich sein wird, dient sie nicht.

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15.11.2023

Stand: 14.11.2023, 21:56 Uhr

Von: Stephan Hebel

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Wer Zusammenhänge im Nahost-Konflikt erkennen und benennen will, muss diesem Anspruch gegenüber allen Seiten gerecht werden. Polarisieren hilft nicht weiter.

1Im Schweizer Fernsehen gab es vor knapp zwei Wochen ein großartiges Interview mit dem deutsch-israelischen, in New York lehrenden Philosophen Omri Boehm. Es ging um die Frage, wie mit der grausamen Attacke der Hamas gegen Israel umzugehen sei – und mit der militärischen Antwort Israels. Ja, dazu ist schon viel gesagt und geschrieben worden. Aber Boehms Aussagen stehen in einem erfreulichen Kontrast zu den unguten Polarisierungen, die wir sonst oft erleben.

Zunächst ein kurzer Rückblick: Vor zwei Wochen war ich nur kurz auf die Nahost-Debatte eingegangen, und ich hatte angesichts des Hamas-Angriffs gefragt: „Warum konnte der öffentliche Raum nicht mal für einen Moment, für ein paar Tage und Wochen, der Erschütterung über das Verbrechen des Augenblicks überlassen bleiben?“

Eine hochgeschätzte Kollegin schrieb mir, sie verstehe, „dass das Entsetzen zunächst Vorrang hat“. Aber: „Wir als kritische Journalisten sind ebenso verpflichtet, Kontext herzustellen. In den hiesigen Medien wird genau das bis heute nach meinem Dafürhalten sträflichst vernachlässigt beziehungsweise als Mangel an Solidarität mit israelischen Opfern hingestellt.“ Und weiter: „Was der palästinensischen Zivilbevölkerung derzeit angetan wird, ist mit internationalem Recht und dem Gebot der Verhältnismäßigkeit jedenfalls unvereinbar.“

In meiner Antwort habe ich der Kollegin ausdrücklich zugestimmt, dass „die mediale und auch die politische Öffentlichkeit eher zu eindimensionaler ,Solidarität‘ mit Israel........

© Frankfurter Rundschau


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