Stand: 10.04.2024, 15:26 Uhr

Von: Stephan Hebel

Kommentare Drucken Teilen

Das gigantische Bahnprojekt „Stuttgart 21“ dient nicht als Vorbild für eine klimafreundliche Politik. Welche Lehren wurden gezogen? Eine Analyse.

Stuttgart – Kennen Sie die Gäubahn? Vielleicht sind Sie schon mal damit gefahren, ohne es zu wissen. „Gäubahn“ wird die Schienenstrecke zwischen Stuttgart und Singen genannt, mit Anschluss nach Zürich. Sie führt durch Landschaften, die hier „Gäu“ genannt werden, so wie anderswo „Gau“: das Korngäu, das Obere Gäu, das Schlehen- und das Heckengäu.

Keine Sorge, hier folgt jetzt keine Betrachtung über historische Bahnstrecken. Es ist vielmehr so, dass die Gäubahn gerade eine wichtige Rolle spielt im Zusammenhang mit „Stuttgart 21“, dem unterirdischsten Bahnhofsprojekt in Deutschland. Dieses wiederum erweist sich immer neu als idealtypisches Beispiel für eine fatale Spezialität des „marktwirtschaftlichen Modells“ in Deutschland: „Innovation“ zu predigen, aber die Methode „Augen zu und durch“ zu praktizieren, wo neues Denken angebracht wäre.

„Stuttgarter Hauptbahnhof geht planmäßig in Betrieb“, hieß es im März auf der Homepage der Deutschen Bahn. Planmäßig? Der ursprüngliche Zeitplan – Inbetriebnahme im Jahr 2019 – konnte damit nicht gemeint sein, die Rede war von Ende 2025. Der Kostenplan auch nicht, er hat sich seit 2009 von 4,5 auf geschätzte elf Milliarden Euro erhöht (wer dafür aufkommt, ist zwischen Land, Stadt und Bahn umstritten). Auch was mit „in Betrieb“ gemeint sein könnte, ist offen: Die digitale Technik, die die herkömmlichen Signale ersetzen soll, macht Schwierigkeiten.

Es könnte auch 2026 werden, jedenfalls bis zur vollständigen Inbetriebnahme des Bahnhofs. Ein anderer Bahnsprecher ließ sich in diesem Zusammenhang jetzt wie folgt zitieren: „Um ein häufiges Missverständnis auszuräumen: Die 21 bei Stuttgart 21 stand noch nie für ein Fertigstellungsjahr.“ Es stimmt zwar, dass die „21“ für die Eisenbahn des 21. Jahrhunderts steht, wie man sie sich einmal vorgestellt hat. Aber mit diesem Argument das Ärgernis der jahrelangen Verzögerung zu relativieren, das zeugt schon von schwarzem Humor.

Zurück zur Gäubahn: Sie ist ein gutes Beispiel für deutsche Verhältnisse, weil ihr genau das droht, was große Teile der Politik in Deutschland trotz erheblichen Transformationsbedarfs produzieren: Stillstand. Jedenfalls in Teilen. Den Stuttgarter Hauptbahnhof, wann immer er fertig ist, werden die Züge aus Zürich und Singen für lange Zeit nicht mehr erreichen. Wer aus der Schweiz anreist oder aus Neckarstädten wie Horb und Rottweil pendelt, soll nach den Plänen der Bahn in Stuttgart-Vaihingen aus- und in die S-Bahn umsteigen. Das gilt so lange, bis ein milliardenschwerer Tunnel (wie der Bahnhof Teil des Projekts Stuttgart – Ulm) und ein Zwischenhalt am Flughafen fertiggestellt ist. Dann soll die Gäubahn den Hauptbahnhof wieder erreichen, nach ehrgeiziger Planung im Jahr 2032.

Eine Bürgerinitiative macht sich inzwischen dafür stark, die Anbindung der Gäubahn ans Stuttgarter Stadtzentrum zu erhalten. Dafür müssten allerdings einige Gleise am alten Kopfbahnhof erhalten bleiben. Was wiederum weder die Bahn noch die Verantwortlichen in Stuttgart wollen, die auf dem Gleisvorfeld ein neues Stadtviertel planen. Unter anderem mit Wohnungen, von denen die Hälfte „bezahlbar“ sein soll. Wozu Hannes Rockenbauch, Veteran des Widerstands gegen Stuttgart 21 und Stadtrat, lapidar bemerkt: „Das heißt, 50 Prozent sind nicht bezahlbar.“ Benedikt Weibel, einst Chef der Schweizer Bundesbahnen (SBB), ergänzte dieser Tage im Konstanzer „Südkurier“: „Stuttgart 21 war ursprünglich kein Bahnprojekt, sondern ein Immobilienprojekt.“ Mal sehen, wer dann an der mit öffentlichem Geld ermöglichten Bebauung verdient.

Aber es gibt da noch einen anderen Aspekt: Die Gäubahn zu kappen, würde viele Menschen auf das Auto umsteigen lassen, argumentiert der Landesnaturschutzverband (LNV) – mit den entsprechenden Folgen für das Klima. Der LNV hatte deshalb beim Eisenbahnbundesamt (EBA) beantragt, eine Planänderung zu veranlassen.

Die Antwort zitierte der Naturschutzverband Anfang April in einer Presseerklärung, und was den Beamten einfiel, sagt über deutsche Zustände einiges aus: „Die Vorschrift im Allgemeinen Eisenbahngesetz zur Stilllegung von Eisenbahninfrastruktur weise, so das EBA, keine Umweltbezogenheit auf. Damit könne der LNV nicht gegen Streckenstilllegungen vorgehen.“ Ob die Kappung der Strecke durch vermehrten Autoverkehr der Umwelt schade, „sei nicht nachgewiesen und könne, so das EBA weiter, angesichts fehlender Antragsbefugnis des LNV auch dahingestellt bleiben“.

Im Klartext: Wenn das klimafreundliche Verkehrsmittel Bahn mitten im Klimawandel jahrelang streckenweise ausfällt, um irgendwann das Reisen unter anderem für Fluggäste attraktiver zu machen, dann zählen ökologische Argumente nichts. Der Landesnaturschutzverband klagt vor Gericht.

FR-Autor Stephan Hebel kommentiert an dieser Stelle alle 14 Tage aktuelle politische Ereignisse. Wenn Sie Kritik, Lob oder Themenhinweise haben, schreiben Sie an stephan.hebel@fr.de. Bitte merken Sie dabei auch an, ob Sie mit einer Veröffentlichung einverstanden wären.

fr.de/hebel-meint

Live erleben können Sie den Autor bei „Hebels aktueller Stunde“ mit Vortrag und Diskussion zu aktuellen Themen am Donnerstag, 11. April, 19 Uhr, Club Voltaire, Kleine Hochstraße 5 in Frankfurt. www.club-voltaire.de. Eine Aufzeichnung wird mit etwas Verzögerung auf dem Youtube-Kanal des Club Voltaire zu sehen sein.

Es hat sich herumgesprochen, dass Stuttgart 21 – mit unrealistischen Planungen und vagen Versprechungen politisch durchgesetzt – nicht gerade als Vorbild dienen kann für eine Politik, die das Land klimafreundlich modernisiert. Aber haben die Verantwortlichen daraus gelernt?

Immerhin: Die Bahn versucht inzwischen die Instandsetzung des Netzes nachzuholen, die sträflich versäumt wurde, während Milliarden im Stuttgarter Loch verschwanden (und noch verschwinden werden). Aber immer noch fließen Unsummen in die Autobahnen, auf denen nicht mal ein Tempolimit gilt, weil der Verkehrsminister sich selbst und seine Klientel mit der Mehrheit der Menschen verwechselt, wenn er behauptet: „Das wollen die Leute nicht.“ Derselbe Verkehrsminister, Volker Wissing von der FDP, grätscht wie seine Vorgänger beim Verschärfen von EU-Abgaswerten mit Hingabe dazwischen.

Wollen „die Leute“ eine Politik, die auf gigantische und schon beim Bau klimaschädliche Betonprojekte selbst dort setzt, wo es um die Förderung der klimafreundlichen Eisenbahn geht? Hätten „die Leute“ nicht womöglich den alternativen Plänen der Stuttgart-21-Gegner für eine Ertüchtigung des Kopfbahnhofs zugestimmt, wenn die Politik ihnen eine Chance gegeben hätte? Haben sich die von Bahn und Politik ignorierten Warnungen vor Mehrkosten und Zeitverzögerungen nicht bewahrheitet? Was hätte man mit elf Milliarden Euro nicht alles sanieren können im bestehenden Netz?

Wenn die gute alte Gäubahn gekappt wird, mag das außer in Süddeutschland nur wenige interessieren. Dabei steht sie beispielhaft für die Taubheit der Regierenden gegenüber klugen Einwänden aus der Zivilgesellschaft.

Als würden Ukraine und Nahost nicht reichen! Jetzt hören wir auch noch, dass in Haiti, direkt neben dem Urlaubs-Traumziel Dominikanische Republik, kriminelle Banden die Herrschaft übernehmen. Warum? „Erdbeben und Hurrikans lösen dort immer wieder schwere Schäden aus“, lesen wir bei Zeit online. „Experten machen auch dafür schwache staatliche Institutionen, fehlende Frühwarnsysteme und die schlechte Infrastruktur verantwortlich.“

Nun ja, die Experten werden wissen, dass das nicht mal die halbe Wahrheit ist. Haiti, als französische Kolonie durch die Arbeit afrikanischer Sklaven ein profitabler Lieferant von Agrarprodukten, hat 1804 seine Unabhängigkeit erklärt. Es musste dafür eine Entschädigung bezahlen, faktisch für entgangene Gewinne europäischer Siedler aus der Sklavenarbeit. Das Geld wurde 150 Jahre lang, bis Mitte des 20. Jahrhunderts, abgestottert.

Die Ausbeutung ging also weiter, und korrupte, von den USA und anderen gestützte Regierungen gehörten zu den wenigen Profiteuren. Die Wirtschaft hängt bis heute vom Agrar-Export und von Billiglohn-Arbeit für internationale Konzerne ab. Versuche, der Korruption ein Ende zu machen, scheiterten sowohl an den Regierenden als auch an den Banden.

Wie wäre es, wenn die USA und Europa Haitis demokratische Kräfte mit einer Entschädigung für jahrhundertelange Ausbeutung stärkten? Klingt utopisch? Ja, genau darin liegt das Problem.

QOSHE - Prestigeprojekt Stuttgart21: Milliarden in den Sand gesetzt - Stephan Hebel
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Prestigeprojekt Stuttgart21: Milliarden in den Sand gesetzt

5 0
10.04.2024

Stand: 10.04.2024, 15:26 Uhr

Von: Stephan Hebel

Kommentare Drucken Teilen

Das gigantische Bahnprojekt „Stuttgart 21“ dient nicht als Vorbild für eine klimafreundliche Politik. Welche Lehren wurden gezogen? Eine Analyse.

Stuttgart – Kennen Sie die Gäubahn? Vielleicht sind Sie schon mal damit gefahren, ohne es zu wissen. „Gäubahn“ wird die Schienenstrecke zwischen Stuttgart und Singen genannt, mit Anschluss nach Zürich. Sie führt durch Landschaften, die hier „Gäu“ genannt werden, so wie anderswo „Gau“: das Korngäu, das Obere Gäu, das Schlehen- und das Heckengäu.

Keine Sorge, hier folgt jetzt keine Betrachtung über historische Bahnstrecken. Es ist vielmehr so, dass die Gäubahn gerade eine wichtige Rolle spielt im Zusammenhang mit „Stuttgart 21“, dem unterirdischsten Bahnhofsprojekt in Deutschland. Dieses wiederum erweist sich immer neu als idealtypisches Beispiel für eine fatale Spezialität des „marktwirtschaftlichen Modells“ in Deutschland: „Innovation“ zu predigen, aber die Methode „Augen zu und durch“ zu praktizieren, wo neues Denken angebracht wäre.

„Stuttgarter Hauptbahnhof geht planmäßig in Betrieb“, hieß es im März auf der Homepage der Deutschen Bahn. Planmäßig? Der ursprüngliche Zeitplan – Inbetriebnahme im Jahr 2019 – konnte damit nicht gemeint sein, die Rede war von Ende 2025. Der Kostenplan auch nicht, er hat sich seit 2009 von 4,5 auf geschätzte elf Milliarden Euro erhöht (wer dafür aufkommt, ist zwischen Land, Stadt und Bahn umstritten). Auch was mit „in Betrieb“ gemeint sein könnte, ist offen: Die digitale Technik, die die herkömmlichen Signale ersetzen soll, macht Schwierigkeiten.

Es könnte auch 2026 werden, jedenfalls bis zur vollständigen Inbetriebnahme des Bahnhofs. Ein anderer Bahnsprecher ließ sich in diesem Zusammenhang jetzt wie folgt zitieren: „Um ein häufiges Missverständnis auszuräumen: Die 21 bei Stuttgart 21 stand noch nie für ein Fertigstellungsjahr.“ Es stimmt zwar, dass die „21“ für die Eisenbahn des 21. Jahrhunderts steht, wie man sie sich einmal vorgestellt hat. Aber mit diesem Argument das Ärgernis der........

© Frankfurter Rundschau


Get it on Google Play