Stand: 03.01.2024, 12:16 Uhr

Von: Stephan Hebel

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Olaf Scholz will uns glauben machen, es könnte einfach so weitergehen wie bisher. Aber für ein besseres Leben müssen wir es wagen, über Veränderung zumindest nachzudenken.

Berlin – Sicher ist Ihnen das auch aufgefallen: Neujahrsgrüße klingen inzwischen anders als noch zu Beginn unseres Jahrzehnts. Seit das Bewusstsein der Vielfach-Krisen – Corona, Klima, Kriege – sich in die allgemeine Stimmung gefressen hat, wünschen wir uns nicht nur ein gutes, sondern oft ein besseres, ein erfreulicheres oder auch ein hoffnungsvolleres neues Jahr.

Ich schließe mich an und wünsche Ihnen wie mir, dass 2024 mehr Hoffnung und mehr Frieden bringt als die vergangenen Jahre. Aber beim Wünschen sollten wir es natürlich nicht belassen. Auch nicht beim Warten auf bessere Zeiten, denn die kommen nicht von selbst. Sie kommen nicht, wenn wir uns in vertraute Nischen zurückziehen und uns vom deutschen Bundeskanzler wider besseres Wissen in falscher Sicherheit wiegen lassen.

„In Ihrem Alltag hier und heute ändert das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nichts“, verkündete Olaf Scholz Ende November 2023, als in Karlsruhe die Haushaltspolitik der Bundesregierung höchstrichterlich pulverisiert worden war. Wenig später, in der Neujahrsansprache, kamen die Umbrüche in der Welt zwar vor, es fiel sogar der Satz „Auch wir müssen uns deshalb verändern.“

Aber: „Wir in Deutschland kommen da durch.“ „Durchkommen“ als Motto: Auch das passt nur zu gut zur Methode Scholz, die in einer skurril misslingenden Merkel-Imitation den Leuten weiszumachen versucht, sie müssten ihm einfach nur vertrauen, dann würde es schon einigermaßen so weitergehen wie bisher.

Im Endeffekt lässt diese Beruhigungsrhetorik die Menschen mit ihrer Angst vor den Auswirkungen all der Krisen und Veränderungen auf das eigene Leben allein. Aber was wäre die Alternative? Es bringt ja auch nichts, den platten Durchhalte-Parolen immer wieder nur die Klage über allgegenwärtige Bedrohungen entgegenzuhalten. Es stellt sich vielmehr die Frage: Wo bleibt das Positive?

Damit ist nicht gemeint, die Dinge schönzureden, das überlassen wir besser dem Kanzler. Es geht darum, Zukunft nicht einfach als Fortsetzung einer krisenhaften Gegenwart zu denken, sondern in Form eines anderen, besseren Lebens, politisch, gesellschaftlich und individuell. Zum Glück gibt es Menschen, die genau das tun. An zwei Büchern, die mir im vergangenen Jahr begegnet sind, lässt sich das beispielhaft für viele andere zeigen. Auf das eine gehe ich ausführlicher ein, auf das andere kurz.

Da sind zunächst die „Zukunftsbilder 2045“, geschrieben und gezeichnet von Stella Schaller, Ute Scheub, Sebastian Vollmar und Lino Zeddies. Das Wort „Bilder“ im Titel ist wörtlich zu nehmen, denn die Texte der fiktiven Journalistin Liliana Morgentau, die 2045 durch Deutschland, die Schweiz und Österreich reist, sind mit Vorher-Nachher-Abbildungen wunderbar illustriert.

„Was wir brauchen, ist Begeisterung und Tatkraft für das Neue“, heißt es in der Einleitung. „Wir müssen Lust bekommen auf die Zukunft, die wir mitgestalten sollen. Und dafür brauchen wir ein Bild dieser Zukunft. Das geht nur mit Neuentwürfen, die eine ganz andere Zukunft greifbar machen und aufzeigen, dass so mancher ,Verzicht‘ – etwa auf ein Auto für jeden der etwa acht Milliarden Menschen auf Erden – in Wahrheit ein Gewinn ist, nämlich an Natur, Gesundheit und Lebensqualität.“

Genau das wird hier nicht einfach postuliert, sondern mit Fantasie und Realismus farbenfroh vorgezeigt: Städte wie Berlin und Hamburg, die Straßen entsiegelt und Bäume gepflanzt haben – nicht weil es romantisch ist, sondern weil es den Menschen die klimabedingte Hitze erst erträglich macht; kleine Orte, die sich in neuen Formen ökologischer und platzsparender Landwirtschaft versuchen; Wirtschafts- und Finanzmetropolen wie Frankfurt und Zürich, wo Banken sich statt um gewagte Spekulation vor allem um gemeinwohlorientierte Unternehmen kümmern, in denen Stress nicht das Wichtigste am Arbeiten ist.

Ja, ließe sich sagen, schön und gut, aber: Flausen! Nein, wer ein solches Buch liest, in dem auch auf die möglichen Etappen einer besseren Entwicklung von 2023 bis 2045 Wert gelegt wird, bekommt ein ganz anderes Gefühl: Der Satz „Seid realistisch, fordert das Unmögliche“, der mal dem französischen Anarchisten Pierre Joseph Proudhon, mal dem lateinamerikanischen Revolutionär Che Guevara und mal beiden zugeschrieben wird, könnte in unserer Zeit die beste Richtschnur für Wege aus Resignation und Stillstand sein.

FR-Autor Stephan Hebel kommentiert an dieser Stelle alle 14 Tage aktuelle politische Ereignisse. Wenn Sie Kritik, Lob oder Themenhinweise haben, schreiben Sie an stephan.hebel@fr.de. Bitte merken Sie dabei auch an, ob Sie mit einer Veröffentlichung einverstanden wären.

fr.de/hebel-meint

Live erleben können Sie den Autor bei „Hebels aktueller Stunde“ mit Vortrag und Diskussion zu aktuellen Themen am Donnerstag, 25. Januar, 19 Uhr, Club Voltaire, Kleine Hochstraße 5 in Frankfurt. www.club-voltaire.de, Livestream: www.fr.de/hebelsstunde.

Denn utopisch und unrealistisch ist womöglich das, was heute vielen als einzig realistische Lebensform erscheint – Motto: An Ihrem Alltag wird sich nichts ändern. Realistisch aber ist die Idee des guten Lebens nur, wenn vieles sich ändert. Und wie soll das geschehen? Das Buch lädt dazu ein, sich selbst zu betätigen. Ein Link führt zu der Internetseite www.realutopien.de, auf der zum Beispiel erläutert wird, wie sich im privaten oder beruflichen Umfeld ein „Zukunftssalon“ organisieren lässt.

Das alles wird die Welt nicht von heute auf morgen verändern. Aber schon beim Blättern stellen wir fest: Wer die Krisen, Grenzen und Zwänge einer trüben Gegenwart nicht ignoriert, aber ihre Überwindung in einer besseren Zukunft wenigstens zu denken wagt, ist der Befreiung schon ein Stück nähergekommen.

Das gilt auch für das zweite, ebenfalls im Oekom-Verlag erschienene Buch, obwohl die Machart eine ganz andere ist. Toni Andreß, Wirtschaftsjurist und Personalberater, zeigt schon im Titel Mut zum großen Denken: „Das postkapitalistische Manifest – Wie wir unsere Wirtschafts- und Umweltkrisen lösen können“. Anhand der Stichworte Kapital, Umwelt, Arbeit und Markt entwickelt Andreß seine Idee einer „sozialökologischen Marktwirtschaft ohne Kapitalismus“.

Stella Schaller u.a. (Hg.): Zukunftsbilder 2045. Oekom-Verlag, 176 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, als Buch 33 Euro, zum Download für 25,99 Euro.

Toni Andreß: Das postkapitalistische Manifest. Oekom-Verlag, 522 Seiten, als Buch 36 Euro, zum Download für 24,99 Euro.

Da mag nicht alles wissenschaftlich perfekt ausgearbeitet sein, und manches wird auf Widerspruch auch in fortschrittlichen Kreisen stoßen, zum Beispiel die Skizze für ein Grundeinkommen und seine Finanzierung. Aber wie die „Zukunftsbilder“ lässt dieses Manifest zumindest erahnen, wie schön es wäre, wenn ein deutscher Bundeskanzler einmal sagte: „In Ihrem Alltag wird sich vieles ändern, und wenn wir uns nicht aufs ,Durchkommen‘ beschränken, kann es nur besser werden.“ (Stephan Hebel)

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Scholz-Motto „Durchkommen“ reicht nicht – Optimismus und Utopie gegen Resignation …

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03.01.2024

Stand: 03.01.2024, 12:16 Uhr

Von: Stephan Hebel

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Olaf Scholz will uns glauben machen, es könnte einfach so weitergehen wie bisher. Aber für ein besseres Leben müssen wir es wagen, über Veränderung zumindest nachzudenken.

Berlin – Sicher ist Ihnen das auch aufgefallen: Neujahrsgrüße klingen inzwischen anders als noch zu Beginn unseres Jahrzehnts. Seit das Bewusstsein der Vielfach-Krisen – Corona, Klima, Kriege – sich in die allgemeine Stimmung gefressen hat, wünschen wir uns nicht nur ein gutes, sondern oft ein besseres, ein erfreulicheres oder auch ein hoffnungsvolleres neues Jahr.

Ich schließe mich an und wünsche Ihnen wie mir, dass 2024 mehr Hoffnung und mehr Frieden bringt als die vergangenen Jahre. Aber beim Wünschen sollten wir es natürlich nicht belassen. Auch nicht beim Warten auf bessere Zeiten, denn die kommen nicht von selbst. Sie kommen nicht, wenn wir uns in vertraute Nischen zurückziehen und uns vom deutschen Bundeskanzler wider besseres Wissen in falscher Sicherheit wiegen lassen.

„In Ihrem Alltag hier und heute ändert das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nichts“, verkündete Olaf Scholz Ende November 2023, als in Karlsruhe die Haushaltspolitik der Bundesregierung höchstrichterlich pulverisiert worden war. Wenig später, in der Neujahrsansprache, kamen die Umbrüche in der Welt zwar vor, es fiel sogar der Satz „Auch wir müssen uns deshalb verändern.“

Aber: „Wir in Deutschland kommen da durch.“ „Durchkommen“ als Motto: Auch das passt nur zu gut zur Methode Scholz, die in einer skurril misslingenden Merkel-Imitation den Leuten weiszumachen versucht, sie müssten ihm einfach nur vertrauen, dann würde es schon einigermaßen so weitergehen wie bisher.

Im Endeffekt lässt........

© Frankfurter Rundschau


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