Mein Vater ist Jude, seine Eltern mussten vor dem Nationalsozialismus aus Berlin fliehen – und der Vater meiner Mutter war bei der SS. Mein Fazit aus meiner Familiengeschichte ist: Wehret den Anfängen! Solche Anfänge sehe ich in einem viel umfassenderen Ausmaß als diejenigen, die seit dem Erstarken der AfD für eine offene Gesellschaft demonstrieren, aber Diskriminierungen und Abschiebungen hinnehmen, solange sich diese nicht gegen sie selbst richten.

Ich setze mich schon lange für Menschen ein, die fliehen mussten. Mittlerweile arbeite ich als Fallmanager für Zugewanderte im Freiburger Jobcenter und bin im Vorstand des Freiburger Migrantinnen- und Migrantenbeirats. Wir alle, jeder Jude und jeder Mensch, haben die Pflicht, bei Hetze Position zu beziehen für eine offene Gesellschaft.

Ein Schlüsselerlebnis in meinem Leben war die Erfahrung, dass Begegnungen verändern können. Nach der Schule habe ich eine Schreinerlehre gemacht. Einer meiner damaligen Freunde war Algerier. Als er mich besuchte, war meine Zimmerwirtin empört. Sie hielt Asylbewerber für gefährlich und sagte mir, ich dürfe nicht mit solchen Leuten verkehren. Später, als sie den Freund und seine Familie besser kannte, hat sie ihre Meinung völlig geändert. Als der Bruder meines Freundes abgeschoben wurde, war sie entsetzt und konnte nicht verstehen, warum sich der deutsche Staat so verhält.

Auch in meiner Familie haben Feindbilder und Begegnungen eine große Rolle gespielt: Die Eltern meiner Mutter waren schockiert, als meine Mutter ihnen ihren jüdischen Schwiegersohn vorstellte. Meine Großeltern erzählten auch nach dem Krieg noch, Hitler habe tolle Autobahnen gebaut und Arbeitsplätze für alle geschaffen.

Leider hat meine Tante die Akten meines Großvaters aus seinem Entnazifizierungsverfahren verbrannt, deshalb konnte ich nie herausfinden, was genau er getan hat. Doch letztendlich haben meine Eltern sogar ein Haus in Pforzheim neben meinen Großeltern gebaut. Mich und meine jüngere Schwester haben meine Großeltern genauso behandelt wie ihre anderen Enkel.

Meine Frau stammt aus dem Kosovo und ist Muslimin.

Religion spielte in der Familie meines Vaters keine Rolle. Seine Eltern waren überzeugte Kommunisten und Atheisten. Nur von den Nazis wurden sie als Juden gesehen. Ihnen gelang die Flucht nach England. Dort wurde mein Vater 1941 geboren. In der Nachkriegszeit wollten meine Großeltern helfen, in der DDR einen sozialistischen Staat aufzubauen. Doch bald erlebten sie erneut Antisemitismus, mein Großvater verlor seine Stelle.

Meine Großeltern trennten sich. Sie träumten beide davon, in Israel zu leben. Bei meinem Großvater klappte es schnell. Er zog mit meinem Vater und meiner Tante in einen Kibbuz, der von Berliner Juden gegründet worden war. Dort im Kibbuz war es für die Kinder schwierig. Sie mussten in einem Kinderhaus leben, sie sahen ihren Vater meist nur zwei Stunden am Tag. So kam es, dass meine Großmutter die beiden wieder zu sich nach München holte.

Mein Vater wurde in seiner Kindheit immer wieder entwurzelt. Und meine Großmutter hat sich nie mehr davon erholen können, dass fast alle ihre Verwandten ermordet wurden. Sie war eine gebrochene Frau. Später habe ich den jüdischen Widerstandskämpfer Jizchak Schwersenz kennengelernt und eine Vortragsreihe mit ihm organisiert. Er war mit einer Gruppe von Jugendlichen in Berlin in den Untergrund gegangen, bevor er in die Schweiz flüchtete. Ihm ist es gelungen, trotz dieser Erfahrungen als Persönlichkeit nicht zu verbittern. Das bewundere ich sehr.

Meine Eltern haben sich getrennt, als ich zwölf Jahre alt war. Mein Vater nahm mich manchmal mit in die Synagoge. Mich hat immer beschäftigt, dass dort Polizisten standen, weil die Synagoge geschützt werden musste. In meiner Kindheit habe ich manchmal den üblichen Antisemitismus erlebt, in Form von Witzen oder Sprüchen. Als Jugendlicher habe ich Das Tagebuch der Anne Frank und viel über Sophie Scholl gelesen. Mir war klar: Als Jude könnte ich verfolgt werden, wenn sich die Zeiten wieder ändern.

Die Schwester meiner Mutter war Lehrerin an einer Waldorfschule, dort ging ich zur Schule. Bei manchen Anthroposophen gibt es problematische rechte Tendenzen. Ich habe mich damals aber an der Schule wohlgefühlt. Nach der Lehre habe ich in Konstanz auf Gymnasial-Lehramt zu studieren begonnen. Neben dem Studium arbeitete ich nach den Brandanschlägen auf Asylunterkünfte Anfang der 90er-Jahre in einem Flüchtlingshelferkreis mit.

Der Asylantrag eines Mannes aus dem Kongo, den ich dort betreute, wurde als »offensichtlich unbegründet« abgelehnt. Ich reiste nach Kinshasa und fand bei seinen Eltern seine Vorladung zu einem Militärgericht. Mit dieser Unterstützung wurde sein Asyl vom Verwaltungsgericht anerkannt. Als ich wieder in Konstanz war, habe ich mit Freunden den Verein »Hand in Hand International« gegründet, mit dem wir Bildungsarbeit in afrikanischen Ländern unterstützten und um ein Bleiberecht für Geflüchtete in Deutschland kämpften.

Von 1996 bis 2006 habe ich zehn Jahre lang für »Hand in Hand International« gearbeitet, die meiste Zeit ehrenamtlich, in den letzten drei Jahren als Geschäftsführer. 2003 habe ich geheiratet, 2004 kam unser Sohn zur Welt. Lange hatte ich gehofft, mir eine Existenz in der Menschenrechtsarbeit aufbauen zu können, doch das ist schwierig. Um den Absprung zu schaffen, zogen wir nach Freiburg, und ich habe an der Pädagogischen Hochschule zu Ende studiert, nun auf Realschul-Lehramt. Nach dem ersten Staatsexamen habe ich gemerkt, dass der Beruf des Lehrers für mich nicht der richtige ist. Eine Zeit lang habe ich Nachhilfe gegeben und als Lernzeitbetreuer gearbeitet, bis ich 2013 hörte, dass das Jobcenter Arbeitsvermittler suchte.

Alle, die motiviert sind, kann ich gut unterstützen mit verschiedenen Förderungsmöglichkeiten.

2016 gründeten das Amt für Migration und Integration, das Jobcenter und die Arbeitsagentur das Kompetenzcenter für Geflüchtete. Zurzeit bin ich Fallmanager für Zuwanderinnen und Zuwanderer mit unterschiedlichen Hintergründen. Alle, die motiviert sind, kann ich gut unterstützen mit verschiedenen Förderungsmöglichkeiten.

Beim Migrantinnen- und Migrantenbeirat arbeite ich ehrenamtlich in der Kommission für Chancengleichheit und Teilhabe mit. Ich berate Menschen und unterstütze sie bei Problemen mit der Ausländerbehörde, wo es zurzeit viele Verzögerungen bei der Bearbeitung gibt. Ich würde gern noch einen Runden Tisch mit Beteiligten aller Seiten gründen, um aufenthaltsrechtliche Probleme besser lösen zu können.

Meine Frau habe ich in der Konstanzer Zeit kennengelernt. Ich habe ihre Cousins bei deren Einsatz für ihr Bleiberecht unterstützt, und sie kam zu Besuch. Sie stammt ursprünglich aus dem Kosovo, zu der Zeit lebte sie in Serbien. Wir verliebten uns. Doch sie durfte mit ihrem Besuchervisum nicht in Deutschland bleiben. Später haben wir geheiratet. Sie arbeitet für eine Großwäscherei und versorgt Einrichtungen mit Arbeitskleidung. Sie ist Muslimin.

Ich selbst bin nicht religiös, aber ich gehe ab und zu in die Synagoge, um die Menschen dort zu treffen. Unseren Sohn haben wir Joram genannt. Der Grund dafür ist, dass mein israelischer Großcousin so hieß – er hat bis zu seinem Tod 2007 in der Begegnungsstätte Givat Haviva zwischen Tel Aviv und Haifa gearbeitet. Das Ziel dieser Arbeit ist die jüdisch-arabische Verständigung. Ich war bisher dreimal in Israel und hatte eigentlich vor, mit meinem Sohn dorthin zu reisen. Das ist jetzt nicht mehr möglich.

Die Freunde meines Vaters berichten, wie unerträglich die Situation für alle ist, für die Israelis und auch für die Palästinenser. Die gesamte Weltlage macht mich sehr skeptisch. In Deutschland geht es nicht nur darum, die AfD zu verhindern. Nicht nur die AfD, auch die anderen Parteien tragen Verantwortung an der Entwicklung. Es ist absurd, dass der Kanzler »Abschiebungen in großem Stil« ankündigt, und gleichzeitig gibt es einen großen Fachkräfte- und Hilfskräftemangel. In vielen Ländern zerstören wir durch unseren Lebensstil die Lebensgrundlagen der Menschen.

Aufgezeichnet von Anja Bochtler

QOSHE - An der Seite der Geflüchteten - Bettina Piper
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An der Seite der Geflüchteten

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20.03.2024

Mein Vater ist Jude, seine Eltern mussten vor dem Nationalsozialismus aus Berlin fliehen – und der Vater meiner Mutter war bei der SS. Mein Fazit aus meiner Familiengeschichte ist: Wehret den Anfängen! Solche Anfänge sehe ich in einem viel umfassenderen Ausmaß als diejenigen, die seit dem Erstarken der AfD für eine offene Gesellschaft demonstrieren, aber Diskriminierungen und Abschiebungen hinnehmen, solange sich diese nicht gegen sie selbst richten.

Ich setze mich schon lange für Menschen ein, die fliehen mussten. Mittlerweile arbeite ich als Fallmanager für Zugewanderte im Freiburger Jobcenter und bin im Vorstand des Freiburger Migrantinnen- und Migrantenbeirats. Wir alle, jeder Jude und jeder Mensch, haben die Pflicht, bei Hetze Position zu beziehen für eine offene Gesellschaft.

Ein Schlüsselerlebnis in meinem Leben war die Erfahrung, dass Begegnungen verändern können. Nach der Schule habe ich eine Schreinerlehre gemacht. Einer meiner damaligen Freunde war Algerier. Als er mich besuchte, war meine Zimmerwirtin empört. Sie hielt Asylbewerber für gefährlich und sagte mir, ich dürfe nicht mit solchen Leuten verkehren. Später, als sie den Freund und seine Familie besser kannte, hat sie ihre Meinung völlig geändert. Als der Bruder meines Freundes abgeschoben wurde, war sie entsetzt und konnte nicht verstehen, warum sich der deutsche Staat so verhält.

Auch in meiner Familie haben Feindbilder und Begegnungen eine große Rolle gespielt: Die Eltern meiner Mutter waren schockiert, als meine Mutter ihnen ihren jüdischen Schwiegersohn vorstellte. Meine Großeltern erzählten auch nach dem Krieg noch, Hitler habe tolle Autobahnen gebaut und Arbeitsplätze für alle geschaffen.

Leider hat meine Tante die Akten meines Großvaters aus seinem Entnazifizierungsverfahren verbrannt, deshalb konnte ich nie herausfinden, was genau er getan hat. Doch letztendlich haben meine Eltern sogar ein Haus in Pforzheim neben meinen Großeltern gebaut. Mich und meine jüngere Schwester haben meine Großeltern genauso behandelt wie........

© Juedische Allgemeine


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