Die Ersten waren natürlich die Sefarden. (Wo wären die Sefarden nicht die Ersten gewesen?) Im September 1654 landeten 23 Juden aus Brasilien mit ihrem Schiff in New York, das damals noch »Neu-Amsterdam« hieß; sie flohen vor der Inquisition und baten um Asyl. Der Gouverneur der Kolonie, Peter Stuyvesant, war ein Antisemit: Er wollte den Juden die Ansiedlung in der Stadt verbieten. Ihr Glaube sei antichristlich, Juden seien Betrüger und Wucherer.

Aber die Niederländische Westindien-Kompanie, in deren Auftrag Stuyvesant Neu-Amsterdam regierte, sah die Sache entschieden anders: Die Juden dürften bleiben, vorausgesetzt, sie fielen der Stadt nicht zur Last. So wurde die erste jüdische Gemeinde der Stadt gegründet; sie nannte sich Shearith Israel und mietete einen Synagogenraum. Die Gemeinde gibt es immer noch, und die »Portugiesische und Spanische Synagoge« in der Upper West Side ist noch heute sehr prächtig.

Allerdings konnte sich die erste Gemeinde nicht lange halten. Nach zehn Jahren waren von den 23 Juden nur noch zwei übrig, der Rest war weitergewandert. Erst in den 1680er-Jahren gibt es wieder Spuren jüdischen Lebens in New York (das 1674 den Besitzer gewechselt hatte; die Niederländer waren abgezogen, die Engländer hatten übernommen). 1776, im Jahr der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, hatte New York dann schon die zweitgrößte jüdische Gemeinde in Nordamerika (nach Charleston, South Carolina). Die meisten New Yorker Juden hielten im Unabhängigkeitskrieg zu den Amerikanern und zogen gegen die Briten in den Krieg.

Die erste aschkenasische Synagoge öffnete 1825 ihre Tore: Sie nannte sich B’nai Jeshurun, die Gründer waren deutsche und polnische Juden. Auch diese Gemeinde gibt es in verwandelter Form noch, sie residiert mittlerweile in einem prächtigen Bau im maurischen Stil in der Upper West Side: ein progressiver, egalitärer Minjan. Eine Generation später lebte schon die Hälfte der rund 50.000 amerikanischen Juden in der Stadt New York. Damals wurde in der Lower East Side die jüdische Loge B’nai B’rith gegründet.

Öffentliche Schulen sind heute an jüdischen Feiertagen geschlossen.

Das nächste Kapitel dieses Epos versteht nicht, wer die Geschichte von Ulysses S. Grant nicht kennt. Grant war Lincolns fähigster General im amerikanischen Bürgerkrieg; und er konnte Juden nicht besonders leiden. Im Dezember 1862 erließ er den berüchtigten »Befehl Nr. 11«, mit dem er die Juden, die er als »Klasse von Kriegsprofiteuren« bezeichnete, aus Tennessee, Kentucky und dem Norden von Mississippi vertrieb.

Als Lincoln davon hörte, kassierte er den Befehl. 1869 wurde Grant amerikanischer Präsident; und er hatte mittlerweile Teschuwa gemacht. Er wurde der judenfreundlichste Präsident, den die Vereinigten Staaten je hatten. Unter ihm standen die Tore offen für Juden, die vor antisemitischen Gesetzen aus Rumänien oder vor Pogromen im Zarenreich flohen.

Die Folge: Zwischen 1880 und 1915 wanderten ungefähr 1,4 Millionen osteuropäische Juden in New York ein – am Ende stellten sie ein Viertel der Bevölkerung. Beinahe alle Immigranten wohnten in der Lower East Side: Dort sah man jiddische Ladenschilder, Männer mit Bärten und altmodischen Mützen, die Handkarren herumschoben, Frauen trugen Kopftücher.

Viele Juden waren Straßenhändler; viele nähten in Sweatshops Kleider, rollten Zigarren oder arbeiteten auf dem Bau. Ihre Synagogen waren nach Landsmannschaften organisiert. Ihr Dasein war alles andere als idyllisch – sie lebten in fünfstöckigen »tenement buildings« ohne Sanitäranlagen und auf engstem Raum.

Die Lower East Side war damals der am dichtesten besiedelte Fleck auf der Erde – es ging dort noch schlimmer zu als in Kalkutta. Erst der Bau der ersten drei Brücken über den East River brachte eine gewisse Erleichterung; sie fungierten als Ventile, durch die der Bevölkerungsdruck abgelassen werden konnte. Vor allem die Williamsburg Bridge galt nach ihrer Eröffnung im Jahr 1903 als »der jüdische Highway« – Hunderte jüdische Familien siedelten nach Brooklyn über und gingen am Schabbat auf der Brücke spazieren.

Die New Yorker Juden der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg waren eine Unterklasse: Sie spielten in der Stadt etwa dieselbe Rolle wie die Schwarzen und Latinos in den 70er-Jahren. Der damalige Polizeipräsident Thomas Bingham hielt Juden samt und sonders für Kriminelle. Und natürlich gab es jüdische Banden von Taschendieben und anderen »No-goodniks«. Keine Geschichte von New York wäre vollständig ohne die Geschichte der jüdischen Gangster: von der »Kosher Nostra« des Mafiabosses Arnold Rothstein über die brutale Bande von Harry Horowitz, die in Five Points operierte, bis zu solch legendären Verbrecherfürsten wie Meyer Lansky, Mickey Cohen, Bugsy Siegel.

Aber nicht nur das Verbrechen blühte, es entstand ein Netzwerk jüdischer Wohlfahrtsorganisationen und Bildungseinrichtungen. Es erschienen jiddische Zeitungen: das »Morgen Schurnal«, das »Jiddische Tageblatt«. Der »Forwerts« vertrat eine klar sozialistische Linie, und es gibt ihn, Baruch Haschem, auch heute noch.

Viele Juden aus Osteuropa hatten aus der alten Heimat ihre politischen Ideen importiert – sie waren also links bis linksradikal. Sie organisierten sich im »Arbeiter Ring«; nachdem 1905 die erste russische Revolution gescheitert war, kamen viele Mitglieder des »Bund« nach New York.

Sie begründeten damit eine ehrwürdige Tradition, die bis heute anhält: Was wäre New York ohne seine linken jüdischen Idealisten? Was wäre es etwa ohne Emma Goldman, die Anarchistin, die nach dem Ersten Weltkrieg aus den Vereinigten Staaten abgeschoben wurde? Was ohne Irving Howe, der sein Leben lang ein demokratischer Sozialist blieb, in den 50er-Jahren den Kommunistenjäger Senator McCarthy bekämpfte und gleichzeitig die Sowjetunion als totalitär brandmarkte? Und was wäre New York ohne seine jüdischen Feministinnen: ohne Bella Abzug, Gloria Steinem, Betty Friedan?

Die meisten New Yorker Juden waren freilich keine Radikalen. Noch vor dem Ersten Weltkrieg stiegen viele von ihnen in die Mittelklasse auf; sie zogen aus der Lower East Side in den Norden von Manhattan, vor allem nach Harlem, das, bevor es schwarz wurde, sehr jüdisch war; weitere Zentren des jüdischen Lebens entstanden in Brooklyn, Queens und der Bronx.

Während des ersten Viertels des 20. Jahrhunderts kamen noch einmal 37.000 Sefarden hinzu, viele von ihnen aus der Türkei und dem Balkan, manche aus Syrien; viele von ihnen sprachen Ladino. In den 30er-Jahren wanderten dann die Flüchtlinge aus Nazideutschland ein, die es geschafft hatten, ein Affidavit und ein Visum zu bekommen. Sie siedelten im Viertel Washington Heights, das bald den Spitznamen »Frankfurt on the Hudson« erhielt; noch heute kann man dort die Synagoge besichtigen, in der einst die Mutter von Henry Kissinger betete.

Die politischen Sympathien eigentlich aller New Yorker Juden lagen seit den 30er-Jahren bei den Demokraten – und bei Franklin D. Roosevelt, der für die Juden so etwas war wie der gute Pharao in der Bibel, der Josef zum Wesir machte: Roosevelts New Deal rettete viele von ihnen nach der Weltwirtschaftskrise vor dem Ruin, er hatte jüdische Berater wie Bernard Baruch und Henry Morgenthau, und er steuerte Amerika mit sicherer Hand durch den Zweiten Weltkrieg.

Nach 1945 kam es zu einem großen Exodus in die Vorstädte – das führte aber nicht dazu, dass die Zahl der Juden in der Stadt gesunken wäre; denn damals siedelten sich viele Überlebende des Holocaust in New York an.

1957 lebten zwei Millionen Juden in der Stadt; das bedeutete, dass immer noch jeder vierte New Yorker jüdisch war. Die Juden arbeiteten als Lehrer, Sozialarbeiter, Ärzte, Psychologen, Journalisten, Anwälte, Lektoren oder führten kleine Unternehmen. Noch heute sind öffentliche Schulen in New York an den Hohen Feiertagen geschlossen – nicht der Schüler wegen, sondern weil so viele Lehrer Juden sind. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden die ultrafrommen Enklaven in Williamsburg und Boro Park in Brooklyn. In den 60er-Jahren kamen viele Juden aus Nordafrika und dem Nahen Osten dazu.

Die jüdische Präsenz hat im New Yorker Dialekt Spuren hinterlassen.

In den 70er- und 80er-Jahren gab es ein Phänomen, das »white flight« genannt wurde: Wohlhabende Weiße flohen aus New York aufs Land und in die sonnigen Bundesstaaten im Süden der Vereinigten Staaten. In der Stadt stieg die Mordrate immer weiter an, wer sich nachts auf die Straße wagte, wurde ausgeraubt, öffentliche Einrichtungen verdreckten und verkamen.

Juden galten nun einfach als Weiße; die meisten von ihnen verdienten ganz gut; und es gab sogar jüdische Republikaner. Hätte man dies ihren Vorfahren erzählt, die vor den Schwarzen Hundertschaften des Zaren flohen, so wären sie vor Lachen gestorben. Wegen des »white flight« sank die Zahl der New Yorker Juden in den folgenden Jahrzehnten bis 2002 auf unter eine Million.

Heute ist New York eine ziemlich sichere Stadt, und die Juden sind wieder da: 1,3 Millionen von ihnen (Stand: 2020). Damit stellen Juden 13 Prozent der Stadtbevölkerung und sind die dominante Subkultur. Das heißt: Juden spielen in New York dieselbe Rolle wie Türken und Kurden in Berlin. Unser Döner Kebab ist das koschere Pastrami-Sandwich.

Die deutlichsten Spuren hat die Präsenz der Juden im New Yorker Dialekt hinterlassen: Der Autor wird nie vergessen, wie er an einem teuflisch heißen Augusttag neben einem riesigen schwarzen Mann mit Glatzkopf auf den Bus wartete. Der Mann holte ein altmodisches Stofftaschentuch aus der Rocktasche, wischte sich damit über die Platte; er und der Autor tauschten einen solidarischen Blick, dann sprach der große Schwarze die geflügelten Worte: »You really shvitz on a day like this.«

New York ist die einzige Stadt außerhalb Israels, in der Synagogen, Mikwes und koschere Lebensmittelläden ganz selbstverständlich sind. Die wichtigsten jüdischen Organisationen haben in New York ihr Hauptquartier: das American Jewish Committee, der American Jewish Congress, die Anti-Defamation League und verschiedene zionistische Vereine. New York ist »Hymie­town«, um ein Schimpfwort zu zitieren, das der schwarze Politiker Jesse Jackson in einem Anfall von akutem Antisemitismus prägte. Daran können zum Glück auch Demonstrationen von Hamas-Fans an der Columbia University nichts ändern: New York bleibt so jüdisch wie Bagel mit Creamcheese und Lox.

QOSHE - Mehr als koscheres Pastrami-Sandwich - Bettina Piper
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Mehr als koscheres Pastrami-Sandwich

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23.03.2024

Die Ersten waren natürlich die Sefarden. (Wo wären die Sefarden nicht die Ersten gewesen?) Im September 1654 landeten 23 Juden aus Brasilien mit ihrem Schiff in New York, das damals noch »Neu-Amsterdam« hieß; sie flohen vor der Inquisition und baten um Asyl. Der Gouverneur der Kolonie, Peter Stuyvesant, war ein Antisemit: Er wollte den Juden die Ansiedlung in der Stadt verbieten. Ihr Glaube sei antichristlich, Juden seien Betrüger und Wucherer.

Aber die Niederländische Westindien-Kompanie, in deren Auftrag Stuyvesant Neu-Amsterdam regierte, sah die Sache entschieden anders: Die Juden dürften bleiben, vorausgesetzt, sie fielen der Stadt nicht zur Last. So wurde die erste jüdische Gemeinde der Stadt gegründet; sie nannte sich Shearith Israel und mietete einen Synagogenraum. Die Gemeinde gibt es immer noch, und die »Portugiesische und Spanische Synagoge« in der Upper West Side ist noch heute sehr prächtig.

Allerdings konnte sich die erste Gemeinde nicht lange halten. Nach zehn Jahren waren von den 23 Juden nur noch zwei übrig, der Rest war weitergewandert. Erst in den 1680er-Jahren gibt es wieder Spuren jüdischen Lebens in New York (das 1674 den Besitzer gewechselt hatte; die Niederländer waren abgezogen, die Engländer hatten übernommen). 1776, im Jahr der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, hatte New York dann schon die zweitgrößte jüdische Gemeinde in Nordamerika (nach Charleston, South Carolina). Die meisten New Yorker Juden hielten im Unabhängigkeitskrieg zu den Amerikanern und zogen gegen die Briten in den Krieg.

Die erste aschkenasische Synagoge öffnete 1825 ihre Tore: Sie nannte sich B’nai Jeshurun, die Gründer waren deutsche und polnische Juden. Auch diese Gemeinde gibt es in verwandelter Form noch, sie residiert mittlerweile in einem prächtigen Bau im maurischen Stil in der Upper West Side: ein progressiver, egalitärer Minjan. Eine Generation später lebte schon die Hälfte der rund 50.000 amerikanischen Juden in der Stadt New York. Damals wurde in der Lower East Side die jüdische Loge B’nai B’rith gegründet.

Öffentliche Schulen sind heute an jüdischen Feiertagen geschlossen.

Das nächste Kapitel dieses Epos versteht nicht, wer die Geschichte von Ulysses S. Grant nicht kennt. Grant war Lincolns fähigster General im amerikanischen Bürgerkrieg; und er konnte Juden nicht besonders leiden. Im Dezember 1862 erließ er den berüchtigten »Befehl Nr. 11«, mit dem er die Juden, die er als »Klasse von Kriegsprofiteuren« bezeichnete, aus Tennessee, Kentucky und dem Norden von Mississippi vertrieb.

Als Lincoln davon hörte, kassierte er........

© Juedische Allgemeine


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