Ich liebe meine Freundin Stephanie vor allem deshalb, weil ich vor ihr weinen darf. Zu weinen ist in Israel aktuell mehr verpönt denn ever. Tränen in der Öffentlichkeit sind ein Zeichen von Schwäche. Seufzen am Abendbrottisch ist nur ein wehleidiges Gehabe. Und seine Sorgen und Ängste laut auszusprechen, oh weh, wie viel ich davon habe, ist nicht erwünscht.

Wir jammern nicht. Wir sind stark. Wir sind Kämpfer. Wir haben alles unter Kontrolle.

Und ich? Sitze mit Stephanie im Café »Babka« neben der Philharmonie in Tel Aviv und weine. Weil mich der Soldat in Uniform mit Laptop auf dem Tisch und Gewehr auf den Füßen zu Tränen rührt. Der vor ihm turnende Mann auch. Am meisten aber die Geschichte, die mir Stephanie erzählt. Sie handelt von Mordechai Rechtman, DEM Fagottisten der Philharmoniker in Israel.

Der kleine Mordechai steht 1938 auf dem Balkon der Wohnung seiner Eltern und spielt Blockflöte. Virtuos. Aber: Blockflöte. So ein Ding hat heutzutage beinahe jeder Mensch in irgendeiner Ecke im Schrank. Ich meine: Hallo?! Blockflöte. Mit einer Blockflöte ist es schwer, zu beeindrucken. Mordechai gelingt es. Unwissend.

Denn, so geht Stephanies Geschichte weiter, plötzlich ruft hinter der Gartenhecke ein Nachbar, Mordechai solle doch mal auf die Straße kommen. Dieser jemand entpuppt sich als Musiklehrer. Er verspricht dem kleinen Mordechai Unterricht mit dem Fagott – welches ehrfürchtig »Das Instrument der Liebe« genannt wird –, wenn er bei einem kleinen Test, der sofort stattfinden wird, auf dem Fagott das tiefe »F« spielen kann.

Mordechai kann. Der Rest ist Geschichte. Auch die Anekdote, dass Mordechai Rechtman aufgrund der Tatsache, dass das Musikinstrument Fagott schwer in Israel zu finden ist, seine neue Heimat als »fagottloses« Land bezeichnet. Die Geschichte von Mordechai kann man nur auf Deutsch erzählen. Fagott heißt im Englischen Bassoon. Und dann erklärt sich »Fagottlos« einfach nicht mehr.

Stephanie und ich berühren uns an den Händen. Weil wir so berührt sind. Meine Freundin fügt beinahe schüchtern hinzu, dass sie die Erste war, mit der Mordechai Rechtman jemals wieder Deutsch gesprochen hat.

Stephanie schickt mir eine Playlist von Mordechai. Seine Lieblingsstücke sind darauf. Und auch der Link zu Bachs Concerto für Fagott und Geigen, BWV1056. Arrangiert und gespielt von Mordechai Rechtman. Mit 94 Jahren! Zu gern würde ich ihn live spielen sehen. Oder gar ein Wort mit ihm reden?

Ich bin zu spät. Mordechai Rechtman starb am 27. Mai vergangenen Jahres in Tel Aviv. Er wurde 97 Jahre alt.

Der Sound Israels ist gerade sehr, sehr laut. Trommeln, Pauken, Trompeten. Wir Menschen hier brauchen AUCH andere Musik. Ich wünsche mir mehr Geigen. Und unbedingt das Fagott. Das Instrument der Liebe. Ach, Liebe.

QOSHE - Nachricht aus Tel Aviv - Christian Rutsatz
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Nachricht aus Tel Aviv

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08.04.2024

Ich liebe meine Freundin Stephanie vor allem deshalb, weil ich vor ihr weinen darf. Zu weinen ist in Israel aktuell mehr verpönt denn ever. Tränen in der Öffentlichkeit sind ein Zeichen von Schwäche. Seufzen am Abendbrottisch ist nur ein wehleidiges Gehabe. Und seine Sorgen und Ängste laut auszusprechen, oh weh, wie viel ich davon habe, ist nicht erwünscht.

Wir jammern nicht. Wir sind stark. Wir sind Kämpfer. Wir haben alles unter Kontrolle.

Und ich? Sitze mit Stephanie im Café »Babka« neben der Philharmonie in Tel Aviv und weine. Weil mich der Soldat in Uniform mit Laptop auf dem Tisch und Gewehr auf den Füßen zu Tränen rührt. Der vor ihm turnende Mann auch. Am meisten aber........

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