Herbst 2002, Uni Tübingen, »Hegelbau« – die geschichtswissenschaftliche Fakultät. Du, cooler, intelligenter und ironischer neuer Assistent am Institut für Osteuropäische Geschichte, Schüler des Berkeley Genies Yuri Slezkine (The Jewish Century), ein amerikanischer Deutscher (oder umgekehrt). Ich, seit acht Jahren in Deutschland, frisch promoviert und komplett ratlos: Wohin mit mir? Vielleicht zurück in die Ukraine?

Du sagst: Ganz klar, nach Amerika, die »Typen wie du« werden dort gebraucht. Eine Konferenz für jüdische Studien in LA ist mein Ziel. Eine Kleinigkeit: Mein Englisch ist minimal. Du sagst: Kein Ding, das kriegen wir hin. Stell dir vor, ein »Rabbi Plamperovich« sitzt jetzt vor dir und hört dir zu. Los!

Irgendwie bekomme ich das mit dem Vortrag tatsächlich hin, du, »Rabbi Plamperovich«, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirklich in Deutschland angekommen war, hilfst mir, begleitest so meine erste akademische Reise in die USA. Es werden weitere folgen.

Du selbst stehst für ein, wie wir damals dachten, alternativloses globales Modell der 1990er-Jahre: Ein Tübinger mit einem für dich entscheidenden sozialen Jahr in Petersburg mit »Aktion Sühnezeichen«. Dort trafst du die alten »Babuschkas«, fast alle jüdisch, mit ihren unglaublichen sowjetischen Biografien. Dort lehrtest du die Memorial-Leute kennen, auch meistens russisch-jüdische, hochgebildete verarmte Intellektuelle, die sich der Erinnerungen an Verbrechen des Stalinismus (im »Gulag«) verschrieben.

Du wirst bis zum Ende zu einem der wichtigsten Memorial-Unterstützer europaweit. Amerika und sein Uni-System mit seinen (überwiegend jüdischen) Professoren der russischen Geschichte und Literatur prägte dich entscheidend.

Kulturgeschichte des Stalinismus, Emotions-, später Migrationsgeschichte wurden deine Themen. Du hast das beste Russisch gesprochen, das ich je in meinem Leben von einem Nichtrussen hörte.

Du hast russische, insbesondere russisch-jüdische, Menschen geliebt, und das russische politische System der letzten 25 Jahre zunehmend abgelehnt. Was für eine traurige Ironie unserer Zeit: Du initiiertest am Goldsmith College der University of London, wo du viele Jahre unterrichtet hattest, ein MA-Programm in Queerer britischer Geschichte. Und am Tag deines Ablebens stufte der Oberste Gerichtshof in »deinem« Russland die LGBTQ+-Community als »extremistisch« ein.

Du warst, als wir uns trafen ein »Foucault-Mann«; »Du bist ein Konstrukt« gehörte zu deinen Lieblingssprüchen. Mit den Jahren wurdest du nicht traditioneller religiös, nein-nein, du betontest bis zuletzt deinen Atheismus. Doch dein Lebensthema war nicht mehr »Geschichte als Konstrukt«, sondern vielmehr »Leben und Politik als Gerechtigkeit«.

Du warst (kann ich diese verdammte Vergangenheitsform überhaupt nutzen?) ein moralischer Mensch, manchmal ein rigoroser, doch einer, der die eigenen Fehler sah und sich immer entschuldigen konnte: »Sorry, ich war heute ein taktloser Narr.«

Zu meiner Zeit beim jüdischen Studienwerk ELES habe ich dich als Vertrauensdozenten für junge Stipendiaten geholt. Du warst ihr nichtjüdisches Glück – und sie deins, denn du hast dich nonstop um sie gekümmert und sie vertrauten dir.

Du hast (mein Geheimwissen) immer für sie bezahlt, jeden Kaffee, jeden Kuchen. Sie nehmen hoffentlich deine Kenntnisse und deinen Horizont mit.

Du hast Deutschland gesucht. In der Zeit der AfD-Erfolge klingt das komisch, doch dein Buch Das neue Wir war deine persönliche Suche nach einem Deutschland, das uns wichtig ist – einem zu sich selbst, auch seinen Widersprüchen, stehenden, toleranten, pluralistischen und komplexen Land der Migranten. Mit vielen jüdischen Themen.

Mit deinem Weggang – dieser Krankheit kann man in einem vertrauen: sie ist völlig gnadenlos – ist das neue Wir hierzulande spürbar schwächer geworden. Denn du warst eine der wichtigsten intellektuellen Stimmen unserer Generation.

Du hast viel Liebe erfahren, das muss man verdienen. Das hast du, denn du hast auch Liebe und moralischen Rückgrat gelebt und anderen gegeben. Deiner Frau, der Animationskünstlerin und Filmwissenschaftlerin Evgenia Gostrer, deinen Töchtern Olga und Lisa, deiner großen Familie und deinen Freunden zwischen San Francisco, Moskau, Berlin und Tel Aviv – uns allen – sollte man heute kondolieren.

Gute Reise, »Rabbi Plamperovich«, farewell, spasibo tebe!

Dmitrij Belkin leitet die Denkfabrik Schalom Aleikum unter dem Dach des Zentralrats der Juden.

QOSHE - „Eine der wichtigsten intellektuellen Stimmen“ - Katrin Richter
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„Eine der wichtigsten intellektuellen Stimmen“

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05.12.2023

Herbst 2002, Uni Tübingen, »Hegelbau« – die geschichtswissenschaftliche Fakultät. Du, cooler, intelligenter und ironischer neuer Assistent am Institut für Osteuropäische Geschichte, Schüler des Berkeley Genies Yuri Slezkine (The Jewish Century), ein amerikanischer Deutscher (oder umgekehrt). Ich, seit acht Jahren in Deutschland, frisch promoviert und komplett ratlos: Wohin mit mir? Vielleicht zurück in die Ukraine?

Du sagst: Ganz klar, nach Amerika, die »Typen wie du« werden dort gebraucht. Eine Konferenz für jüdische Studien in LA ist mein Ziel. Eine Kleinigkeit: Mein Englisch ist minimal. Du sagst: Kein Ding, das kriegen wir hin. Stell dir vor, ein »Rabbi Plamperovich« sitzt jetzt vor dir und hört dir zu. Los!

Irgendwie bekomme ich das mit dem Vortrag tatsächlich hin, du, »Rabbi Plamperovich«, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirklich in Deutschland angekommen war, hilfst mir, begleitest so meine erste akademische Reise in die USA. Es werden weitere folgen.

Du selbst stehst für ein, wie wir damals dachten, alternativloses globales Modell der 1990er-Jahre: Ein Tübinger mit einem für dich........

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