Nun ist es also in Zürich passiert. Die Realität hat auch die Schweiz eingeholt. Vielleicht war es naiv zu denken, dass ein brutaler Angriff mit einem Messer auf einen orthodoxen Juden, wie er am Samstagabend auf offener Straße geschah, im weltoffenen, toleranten Zürich nie stattfinden würde.

Hier gehören orthodoxe Jüdinnen und Juden zum Stadtbild. Auch wenn sie nur den kleinsten Teil der lokalen jüdischen Bevölkerung ausmachen – es ist jener Teil, der sichtbar ist. Aber vulnerabel sind wir Jüdinnen und Juden alle.

Bis zum vergangenen Samstagabend schienen die Pariser Banlieues oder Berlin für uns in Zürich weit weg. Gleichzeitig ließ der 7. Oktober 2023 nichts Gutes erahnen. Die antisemitischen Übergriffe sind seitdem angestiegen: zuerst relativierende Wortmeldungen (»Ja, aber…«), dann Hassbotschaften an Hauswänden und in den sozialen Netzwerken, schließlich öffentliche Aggressionen, etwa auf Anti-Israel-Demonstrationen.

Nun liegt ein 50-jähriger Familienvater mit schweren Stichverletzungen im Spital. Der grauenhafte Versuch, eine Person zu ermorden, die erkennbar jüdisch ist, markiert eine Zäsur für das ganze Land. Es wurde glasklar vorgeführt, was die meisten Jüdinnen und Juden auch in der Schweiz wohl schon immer befürchtet haben: dass der Hass in Gewalt umschlägt.

Das eigene Sicherheitsgefühl ist gestört. Dass nun auch bei uns Polizeiautos vor sämtlichen jüdischen Institutionen stehen, beruhigt nur vordergründig. Behörden und Politiker bekunden mit Überzeugung, Antisemitismus und Rassismus hätten keinen Platz in unserer Gesellschaft. Doch wer garantiert dafür?

Es ist nicht nur die Aufgabe des Bundes, dafür zu sorgen, dass »Nie wieder ist jetzt« nicht zur Randnotiz der Geschichte verkommt. Nun muss ein Umdenken stattfinden – nicht nur in der Politik, sondern vor allem auch in der Bevölkerung, in den Schulen, wo auch der Täter vom Samstag herkam. Sonst sickert die Radikalisierung durch alle Gesellschaftsschichten und trifft die freiheitliche und offene Schweiz in ihrem Herzen.

Wer judenfeindliche Parolen bei einem solchen Akt ruft, wer bei der Festnahme lacht und wer überhaupt eine solche Tat begeht, tut dies aus Überzeugung und führt vor Augen, wie erbarmungslos Antisemitismus ist. Die Früchte des judenfeindlichen Nährbodens, der immer mehr gedüngt wurde, sind nun reif. Als Jüdinnen und Juden haben wir also auch die Aufgabe, wachsam zu sein.

Dennoch ist klar: Jüdisches Leben in der Schweiz und anderswo muss und wird weiter existieren. Wir werden uns nicht verstecken und nicht einschüchtern lassen. Angst und Verunsicherung dürfen nicht überhandnehmen. Das ist das gefährliche Ziel von Terrorismus.

Wir dürfen in einer verständnisvollen Gesellschaft nicht zulassen, dass Angst zur Normalität wird, dass antisemitisch oder rassistisch motivierte Hassverbrechen zum Tagesgeschehen gehören. Unsere Kinder sollen ohne Polizeischutz in den Kindergarten gehen dürfen. Das wäre normal.

QOSHE - Eine Zäsur für das ganze Land - Katrin Richter
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Eine Zäsur für das ganze Land

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05.03.2024

Nun ist es also in Zürich passiert. Die Realität hat auch die Schweiz eingeholt. Vielleicht war es naiv zu denken, dass ein brutaler Angriff mit einem Messer auf einen orthodoxen Juden, wie er am Samstagabend auf offener Straße geschah, im weltoffenen, toleranten Zürich nie stattfinden würde.

Hier gehören orthodoxe Jüdinnen und Juden zum Stadtbild. Auch wenn sie nur den kleinsten Teil der lokalen jüdischen Bevölkerung ausmachen – es ist jener Teil, der sichtbar ist. Aber vulnerabel sind wir Jüdinnen und Juden alle.

Bis zum vergangenen Samstagabend schienen die Pariser Banlieues oder Berlin für uns in Zürich weit weg. Gleichzeitig ließ der 7. Oktober 2023 nichts Gutes erahnen. Die antisemitischen Übergriffe sind seitdem........

© Juedische Allgemeine


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