Die Verzweiflung spiegelt sich in jedem Satz wider. Die unerträgliche Angst um das Leben ihrer Liebsten in jedem Wort. Am 134. Tag äußerten sich Angehörige der 134 Geiseln in Gaza völlig entsetzt auf dem Platz der Geiseln in Tel Aviv über die Entscheidung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu – und entgegen der Empfehlungen der Sicherheitskräfte –, kein Team zu den Verhandlungen eines Geiseldeals nach Kairo zu senden.

Bei der wöchentlichen Kundgebung am Samstagabend übergab das Forums der Familien für Geiseln und Vermisste erstmals das Mikrofon durchgehend an die Angehörigen von mehr als 40 Familien, von denen Mitglieder nach Gaza entführt wurden. Es gab weder musikalische Einlagen der Solidarität, wie sonst üblich, noch Reden von Sicherheitsexperten zur Einschätzung der Lage. Stattdessen schrien die Familien ihren Schmerz und ihre Frustration über die Untätigkeit der Regierung in »Minutes of Screaming« in den Abendhimmel.

Ungefiltert gaben die Stimmen der Geiseln Einblick in die emotionale Notlage und auch die Meinungsvielfalt unter den Familien, die auf einen Deal drängten. Viele meinen, die Freilassung der Geiseln sollte um jeden Preis erfolgen, einige sind anderer Ansicht.

Der Bruder von Ofer Calderon, Nissim Calderon, rief in Richtung Regierung: »Nehmen Sie die Politik aus Entscheidungen über das Leben unserer Lieben heraus. Dies ist der Moment der Wahrheit, es wird nicht mehr viel wie diesen geben, wenn die Kairo-Initiative scheitert!«

»134 Särge sind kein Sieg«, rief Mor Shoham, der Bruder von Tal Shoham. »Ich rufe hier den Premierminister und das Kriegskabinett auf: Schicken Sie einen Gesandten nach Kairo, Paris oder wo auch immer es nötig ist. Lassen Sie uns nicht noch einmal im Stich!«

»Ich habe das Kostbarste verloren – meinen ältesten Sohn.«

»Ich habe das Kostbarste verloren: meinen ältesten Sohn, der mich zur Mutter und Großmutter gemacht hat«, weinte Yael Adar, die Mutter von Tamir Adar, der in Geiselhaft in Gaza von Terroristen ermordet wurde. »Der Staat hat mich zu einer trauernden Mutter gemacht und seine Kinder zu Waisen. Mein Sohn wurde im Zuge der staatlichen Vernachlässigung ermordet, die uns weiterhin im Stich lässt.« Gegenüber der Residenz des Premierministers in Jerusalem fand zur selben Zeit ebenfalls eine Kundgebung statt.

Am selben Abend versammelten sich auch Gegner der Regierung an rund 50 Orten im ganzen Land zu Protesten, um nach Neuwahlen zu rufen. Tausenden demonstrierten gegenüber Netanjahus Haus in Cäsarea. In Tel Aviv widersetzten sich ebenfalls tausende von Menschen einem Polizeiverbot, eine große Kundgebung gegen die Regierung abzuhalten. Auch hier skandierten sie »Bechirot achschaw« – »Neuwahlen jetzt!«

Als Antwort auf den steigenden Druck, Neuwahlen auszurufen, sagte Netanjahu noch am selben Abend auf einer Pressekonferenz: »Die Wahlen haben ein Datum, und das ist in ein paar Jahren. Ich schlage vor, dass wir uns während des Krieges nicht darum kümmern.« Er fügte hinzu: »Wenn es etwas gibt, was Hamas gerne hätte, dann wäre es solch ein politischer Kampf.« Die nächsten Parlamentswahlen sind offiziell für Oktober 2026 geplant. Netanjahu schlage allen vor, »darauf geduldig zu warten«.

Oppositionsführer Yair Lapid gab im Anschluss an die Presskonferenz eine Erklärung ab und äußerte dabei, dass Netanjahu »nicht geeignet ist, Premierminister Israels zu sein«, und dass er das Vertrauen der Bevölkerung verloren hat. Lapid prangerte auch die völlige Vernachlässigung der israelischen Bürger durch die Regierung Israels an, »die noch immer in den Tunneln der Hamas sitzen«.

»Wenn der 7. Oktober, Gott bewahre es, unter meiner Aufsicht passiert wäre«, so Lapid weiter, »hätte Netanjahu Leute geschickt, um mein Haus niederzubrennen«.

In einer aktuellen Umfrage des Israel Democracy Institutes nach dem verheerenden Massaker der Hamas vom 7. Oktober ist das Ansehen der Regierung auf den tiefsten Stand seit 20 Jahren gesunken. Mehr als zwei Drittel der Israelis wollen der Untersuchung zufolge, dass Wahlen anberaumt werden sollten, sobald der Krieg gegen die Hamas beendet ist.

QOSHE - »134 Särge sind kein Sieg!« - Sabine Brandes
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»134 Särge sind kein Sieg!«

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18.02.2024

Die Verzweiflung spiegelt sich in jedem Satz wider. Die unerträgliche Angst um das Leben ihrer Liebsten in jedem Wort. Am 134. Tag äußerten sich Angehörige der 134 Geiseln in Gaza völlig entsetzt auf dem Platz der Geiseln in Tel Aviv über die Entscheidung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu – und entgegen der Empfehlungen der Sicherheitskräfte –, kein Team zu den Verhandlungen eines Geiseldeals nach Kairo zu senden.

Bei der wöchentlichen Kundgebung am Samstagabend übergab das Forums der Familien für Geiseln und Vermisste erstmals das Mikrofon durchgehend an die Angehörigen von mehr als 40 Familien, von denen Mitglieder nach Gaza entführt wurden. Es gab weder musikalische Einlagen der Solidarität, wie sonst üblich, noch Reden von Sicherheitsexperten zur Einschätzung der Lage. Stattdessen schrien die Familien ihren Schmerz und ihre Frustration über die Untätigkeit der Regierung in »Minutes of Screaming« in den Abendhimmel.

Ungefiltert gaben die Stimmen der Geiseln Einblick in die emotionale Notlage........

© Juedische Allgemeine


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