dpa/Virginia Mayo

NATO-Generalsekretär Stoltenberg am Montag in Brüssel

Am Montag überraschte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg die im Brüsseler Hauptquartier des Pakts zur Pressekonferenz versammelten Journalisten. Einen Tag vor Beginn eines zweitägigen NATO-Außenministertreffens verkündete der Norweger, Kiew habe »große Siege« gegen Russland erzielt. Das war den Berichterstattern neu, jedenfalls merkte Reuters-Korrespondent Andrew Gray vorsichtig an, in diesem Jahr habe es die wohl nicht gegeben. Er berief sich auf den ukrainischen Oberkommandierenden Waleri Saluschnij, der kürzlich von einem »Patt« gesprochen hatte. Stoltenbergs Antwort lief auf »Was geht mich ein Kiewer General an?« hinaus: »Zwischen der Tatsache, dass sich die Frontlinie nicht so stark verschiebt, und der Tatsache, dass tatsächlich sehr heftige Kämpfe im Gange sind« müssten »wir« unterscheiden. Militärische Erfolge ließen sich zwar »teilweise in Quadratmetern« berechnen, aber auch »an den Verlusten, die man dem Gegner beibringen kann«. Und da habe Kiew Bedeutendes geleistet. Vor allem gelte es, an den Ausgangspunkt 2022 zu erinnern, als »die meisten Experten und auch wir befürchteten, dass die Ukraine in wenigen Wochen zusammenbrechen würde«.

Die eigene Fehlwahrnehmung als Argument für Krieg ohne Ende dürfte militärgeschichtlich neu sein. Der Befehl aber, Kiew soll nicht schlappmachen, sondern weitermachen, ist es nicht – die Devise heißt wie gehabt: Kämpfen bis zum letzten Ukrainer. Das war bereits Hauptgrund, um im Frühjahr 2022 das sogenannte Istanbul-Memorandum mit einem zwischen Moskau und Kiew verhandelten Waffenstillstand zu zerfetzen. Stoltenbergs jetzige Garnierung, Kiew habe große Siege vorzuweisen, auch wenn es nichts davon weiß, ist gratis. Sie besagt vor allem: Für den kollektiven Westen ist das Geschehen an seiner Ostfront ein Wohlfühlkrieg im Gegensatz etwa zu dem im Nahen Osten. Russlands Eingreifen in den Krieg niederer Intensität, den Kiew auf Veranlassung und mit Hilfe der USA und ihrer Verbündeten 2014 zunächst gegen die Ostukraine geführt hatte, bot vor allem die Gelegenheit, die bröckelnde NATO zu festigen, Hochrüstungspläne aus den Schubladen zu holen und Russlands Schwächung ernsthaft anzugehen. Letzteres hat, meinte Stoltenberg am Montag, schon geklappt.

Das ist zwar NATO-Wunsch, aber nicht Realität, nicht mal innerhalb des Vereins. Die Türkei und Ungarn tanzen nicht nur mit ihrer Blockade des NATO-Beitritts Schwedens aus der Reihe, vor allem teilt die Mehrheit der Staaten auf der Welt nicht die westliche Sicht auf den Krieg. Russland scheint bisher von dem, was etwa die deutsche Volkswirtschaft in die Rezession beförderte, zu profitieren, statt Schaden zu nehmen.

So bleibt von der NATO-Linie: Kiew erhält so viele Waffen, wie es wünscht. Dafür hat es die Pflicht zum Tod. Und zu »großen Siegen«, die für den Westen woanders immer schwerer zu haben sind.

QOSHE - Kiews Pflicht zum Tod - Arnold Schölzel
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Kiews Pflicht zum Tod

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27.11.2023

dpa/Virginia Mayo

NATO-Generalsekretär Stoltenberg am Montag in Brüssel

Am Montag überraschte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg die im Brüsseler Hauptquartier des Pakts zur Pressekonferenz versammelten Journalisten. Einen Tag vor Beginn eines zweitägigen NATO-Außenministertreffens verkündete der Norweger, Kiew habe »große Siege« gegen Russland erzielt. Das war den Berichterstattern neu, jedenfalls merkte Reuters-Korrespondent Andrew Gray vorsichtig an, in diesem Jahr habe es die wohl nicht gegeben. Er berief sich auf den ukrainischen Oberkommandierenden Waleri Saluschnij, der kürzlich von einem »Patt« gesprochen hatte. Stoltenbergs Antwort lief auf »Was geht mich ein Kiewer General an?« hinaus:........

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