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Muss sich jetzt genau überlegen, wie weit er gehen will und kann: Tusk am Dienstag im Sejm in Warschau

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, heißt es in einem Gedicht von Hermann Hesse. Donald Tusk, der neugewählte polnische Ministerpräsident, war in seiner Regierungserklärung eifrig bemüht, diesem Spruch gerecht zu werden, auch ohne dass er ihn zitieren musste. So taufte er seine christdemokratisch-sozialdemokratische Koalition gleich um in »Koalition des 15. Oktober« und schwärmte ausführlich davon, dass dieses Vierparteienbündnis mehr sei als eine Notallianz jener Teile der politischen Klasse Polens, die mit einem möglichen dritten Wahlsieg der bisherigen Regierungspartei auch die sozialen und organisatorischen Grundlagen ihrer eigenen Fortexistenz in Gefahr sahen. Immerhin: Die Gewöhnung an weitere vier Jahre eines national-klerikalen Populismus konnte mit dem Wahlergebnis vom 15. Oktober gestoppt werden. Ob sich diese Konstellation in vier Jahren wiederholen lässt, steht in den Sternen. Denn jetzt hat die neue Koalition die Chance, sich zu bewähren oder zu blamieren.

Woran will sie sich bewähren? Tusk beschwor nationalen Gemeinschaftsgeist nach innen und Kriegsbereitschaft nach außen. Bei der Unterstützung der Ukraine will sich Tusks Polen von niemandem übertreffen lassen, insbesondere nicht von der BRD, die sich zum Missvergnügen der polnischen Eliten inzwischen auf Platz 1 der Kiew-Finanziers geschoben hat und aus dieser Pole-position heraus bestrebt sein könnte, auch politische Ansprüche auf Einfluss in der Nachkriegsukraine anzumelden. Damit droht Polen sein Alleinstellungsmerkmal zu verlieren, mit dem nicht nur die PiS-Regierung versucht hat, international zu punkten: seine Rolle als unmittelbares Hinterland des ukrainischen Frontstaates. In der EU, in der Polen laut Tusk »seinen gebührenden Platz als führende Nation zurückgewinnen« will, ist von diesem stärkeren Engagement wenig Gutes zu erwarten. Unbeschwert von den nationalistischen Verknöcherungen und antideutschen Phobien der PiS, wird Tusks Regierung daran arbeiten, Brüssel auf seinem Konfrontationskurs gegenüber Russland zu halten. Dass ihr das beim gegenwärtigen Zustand der EU leicht fallen dürfte, stimmt sicher. Aber Tusks markige Forderung, es dürfe in der EU keine Erschöpfung und keine Kriegsmüdigkeit geben, ist deutlich genug.

Auch was das Aufräumen mit den autoritären Strukturen im Inneren Polens angeht, sollte man von dem Kabinett Tusk keine Wunder erwarten. Gleich zu Beginn seiner Rede ging er auf Kuschelkurs mit den Anhängern der PiS, zitierte Papst Wojtyla und beschwor die Gemeinsamkeit über alle politischen Grenzen hinweg. Das ist nachvollziehbar: Ein gutes Drittel der polnischen Bevölkerung hat am 15. Oktober die PiS gewählt; diese Leute haben sich nicht in Luft aufgelöst, und seine Rhetorik von Tusk als »deutschem Agenten« hat Jarosław Kaczyński gleich am Montag abend ausprobiert. Der Zauber des Neuanfangs kann sich schnell als fauler Zauber erweisen.

QOSHE - Neuanfang ohne Wunder - Reinhard Lauterbach
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Neuanfang ohne Wunder

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12.12.2023

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Muss sich jetzt genau überlegen, wie weit er gehen will und kann: Tusk am Dienstag im Sejm in Warschau

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, heißt es in einem Gedicht von Hermann Hesse. Donald Tusk, der neugewählte polnische Ministerpräsident, war in seiner Regierungserklärung eifrig bemüht, diesem Spruch gerecht zu werden, auch ohne dass er ihn zitieren musste. So taufte er seine christdemokratisch-sozialdemokratische Koalition gleich um in »Koalition des 15. Oktober« und schwärmte ausführlich davon, dass dieses Vierparteienbündnis mehr sei als eine Notallianz jener Teile der politischen Klasse Polens, die mit einem möglichen dritten Wahlsieg der bisherigen Regierungspartei auch die sozialen und organisatorischen........

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